Erzählungen,  Klassiker

Max Frisch, „Der Mensch erscheint im Holozän“

Eine Meditation über die Vergänglichkeit

Obwohl ich die Romane, Theaterstücke und Texte Max Frischs immer sehr geschätzt habe, konnte ich mich erst jetzt, genauer gesagt im Alter von 55 Jahren, dazu durchringen auch seine Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ zu lesen. Diese 1979 erschienene Geschichte (eigentlich eine Parabel, wenn man es genau nehmen will) war mir immer als resignativer Text über den geistigen Abbau im Alter geläufig. Ernüchternd und für mich irgendwie auch beunruhigend.

Es handelt sich um das sog. „Abschiedswerk“ eines Autors, dessen literarische Auseinandersetzungen sich in der Hauptsache eher um die Fragen nach Identität, Rollen und Selbstbild des Menschen drehten.  Und tatsächlich hat seine Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ einen anderen Fokus und stellte sich als eine Art Meditation über die Vergänglichkeit des Menschen heraus. Allerdings weniger im Sinne einer dramatischen Verzweiflung, sondern eher einer stillen, sachlichen Resignation. Nicht gerade eine kurzweilige Strandlektüre. Für mich persönlich vielmehr ein Text, in den man sich wohl erst in einem fortgeschrittenen Alter einfühlen kann oder das überhaupt will. Zumindest bei mir war das so der Fall.

 

„Der Mensch erscheint im Holozän“:

Der pensionierte Ingenieur Herr Geiser lebt allein in einem abgelegenen einsamen Tal im Tessin. Obwohl es Sommer ist, regnet es seit vielen Tagen nahezu ununterbrochen. Kleinere Erdrutsche und Überschwemmungen machen Straßen und Wege unpassierbar. Der alte Herr Geiser fühlt sich isoliert und von der Außenwelt abgeschnitten.

Immer deutlicher zeigt sich, dass sein Gedächtnis nachlässt. Er vergisst Alltägliches, Namen der Familienmitglieder, einen begonnenen Satz zu beenden oder warum er überhaupt in die Küche gegangen ist. Herr Geiser begegnet seinem Vergessen, indem er zahllose Lexikonbeiträge, Zeitungsartikel und Bibelpassagen ausschneidet und diese, zusammen mit handgeschriebenen Notizzetteln, an die Wände seines Hauses pinnt. Textfragmente über Geologie, Geschichte, Pflanzen, Tiere und besonders auch über den Menschen, dessen kurze Existenz und seinen Platz in der Erdgeschichte.

Herr Geisers Versuch, seiner Isolation durch einen Fußmarsch ins Nachbartal zu entkommen scheitert. Gleichzeitig verschlechtert sich sein geistiger Zustand.

 

Eine ganz besondere Stimme und Struktur

Mein persönlicher Zugang zu Max Frisch war immer schon seine ganz besondere Sprache. Ich liebe Frischs unaufgeregte, analytische, gleichzeitig, aber auch sehr persönliche, reflexive Erzählstimme, die die Leser ganz nah an seine Gedanken und Zweifel heranlässt, gleichzeitig aber immer eine gewisse protokollarischer Distanz zu halten vermag. Max Frischs Stimme ist einzigartig und das ideale Transportmittel für seine engagierten Themen.

Kein Zufall, dass sie sich besonders gut für die von ihm häufig verwendete und fortlaufend weiterentwickelte Erzählform der Collagentechnik eignet, mit der er bereits in seinem frühen Roman „Mein Name sei Gantenbein“, seinen Tagebüchern und ganz besonders in seiner etwas früheren autofiktionalen Erzählung „Montauk“ experimentierte. In „Der Mensch erscheint im Holozän“ hat er diese Technik radikalisiert und zum wesentlichen Strukturprinzip erhoben. Der gesamte Text ist hier eine einzige Collage, die die Erzählung trägt. Herr Geisers Notizzettel, sowie die ausgeschnittenen originalen Lexikonbeiträge und Zeitungsartikel werden eins zu eins originalgetreu wiedergegeben und teilweise sogar als gedruckte Bildtafeln eingebettet. Durch die Montage völlig verschiedener Textarten entsteht ein eigenständiger neuer, nicht linear erzählter Prosatext.

Gerade diese besondere Erzählstruktur vermag sehr überzeugend die sich verschlechternde geistige Verfassung des Protagonisten zu spiegeln. Inhalt und Form korrespondieren. Das Sammeln und Ankleben wird zu Geisers letzter „Ordnungsgeste“ gegen seine zunehmende Desorientierung. Und auch als Lesender ist man bemüht, die einzelnen Textfragmente zu einem nachvollziehbaren Ganzen zusammenzufügen. Ein sehr gelungener, behutsamer Text über einen geistigen Verfall.

Die besondere Qualität der Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän liegt aber eigentlich darin, dass sie sich (sowohl inhaltlich als auch formal) einer eindeutigen Lesart entzieht. Stattdessen zeigt sie sich offen für eine Vielzahl weiterer spannender Interpretationsansätze, auf die ich hier nicht näher eingehen will. Jeder Leser kann sich den Text individuell aus seiner eigenen Perspektive erschließen. Und es gibt viel zu entdecken. Herausragend!

 

Was bleibt

Es ist sicherlich kaum zu überlesen, dass ich ein Max Frisch Fan bin. Auch wenn „Der Mensch erscheint im Holozän“ für mich persönlich nicht an die Bedeutung und Stellung seiner Meistererzählung „Montauk“ heranreichen kann, handelt es sich doch um einen großartigen Text, der im Gegensatz zu „Montauk“ auch den Zugang für Lesende eröffnet, denen der Autor und dessen Biografie weniger bekannt sind.

 

Ich bin begeistert und möchte mit meiner persönlichen Interpretation des Textes schließen:

 

All das Wissen und jede Erzählung des Menschen, sind letztendlich nicht mehr als lose Zettel im Strom der Zeit.

  • Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän
  • Taschenbuch, 143 Seiten
  • Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 1979
  • ISBN 978-3-518-37234-0
  • Preis 10 €
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2 Comments

  • holger

    Ach was war ich enttäuscht. Zuerst hatte ich nur davon gehört, dass in dem Buch beständig regne, aber dann das. Wieder nur jemand, der sich nicht mehr erinnern kann, verwirrt ist. Für mich, entschuldige, eher ein schwaches Buch. (Vielleicht tue ich ihm unrecht, aber zur Zeit denke ich so.)

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