Belletristik,  Gesellschaftsroman

Caroline Wahl, „22 Bahnen“

Hochsommer in einer farblosen Kleinstadt: Neben Mathestudium und Nebenjob an der Supermarktkasse ist das allabendliche Schwimmen im Freibad einer der wenigen Lichtblicke für Tilda. Hier kann sie mal kurz abschalten von Ihrem Alltag, in dem sie sich um ihre kleine Schwester Ida und ihre alkoholkranke Mutter kümmern muss, Von einem freien und unbeschwerten Leben erlaubt sie sich nicht zu träumen. Dann taucht Viktor auf, und plötzlich gerät alles aus dem Takt. [Verlagstext]

Vor einiger Zeit bat mich ein befreundeter Kollege um meine Meinung zum Roman 22 Bahnen, von Caroline Wahl, der sehr populär sei aber gleichzeitig auch überraschend kontrovers aufgenommen werde. Da ich das Buch in der Buchhandlung, nicht zuletzt wegen seines ausgesprochen gelungenen Covers, bereits wiederholt in der Hand gehalten hatte war klar, dass ich den Roman lesen und darüber berichten würde:

Debütroman einer jungen Autorin, im Jahr 2023 für 30 Wochen in der Top-20 Spiegel Bestsellerliste, sofort mehr als 100.000 Verkäufe, zahlreiche Buchpreise und gelobt u.a. von Elke Heidenreich und Denis Scheck. Auch der Nachfolgeroman „Windstärke 17“ ein Erfolg. Läuft! Kann man sagen.

Und doch, oder vielleicht auch gerade deswegen, wurde der Roman in der Literatur-Bubble und Kritik überraschend kontrovers aufgenommen. Neben mangelnder Glaubwürdigkeit bzw. Schwarz-Weiß-Tendenzen bei der Figurenanlage und einem fehlenden Wendepunkt, wird überraschend häufig die Sprache des Romans kritisiert. Sie sei zu umgangssprachlich, nicht literarisch genug und vor allem seien die Dialoge unrealistisch und ungelenk. Eher ein Jugendroman, ist zu vernehmen. Letzteres ein merkwürdiger Einwand, der mich regelmäßig auf die Palme bringt.

Alles in Allem also schon einmal eine großartige kontroverse Ausgangssituation für eine Lektüre, denn ohne Reibung wäre die Literatur ja nur halb so interessant!

Ich selbst kann die genannten negativen Kritikpunkte nicht ansatzweise teilen. Gerade die frische, realistische aber nie schnoddrig erscheinende Alltagssprache der Ich-Erzählerin hat mich gleich zu Beginn ganz für den Roman eingenommen. Ich empfinde die Stimme als jung, unkonventionell und sehr authentisch. Immerhin ist 22 Bahnen der Roman einer etwas über 20-jährigen Frau, die über die schwierige, teilweise prekäre Lebenssituation einer ebenfalls etwas über 20-jährigen Frau schreibt. Als ü50-jähriger männlicher Rezensent fühle ich mich da wenig berufen, an der Authentizität der Sprache oder der Glaubwürdigkeit der Figuren des Romans zu zweifeln.

Eindeutig ist 22 Bahnen eine Coming-of-Age-Geschichte. Tilda steht an der Schwelle, die enge, belastete Kleinstadtwelt ihrer Jugend hinter sich zu lassen. Eine Jugend, die sie nicht ausleben kann. Zu lange schon übernimmt sie die Verantwortung für ihre geliebte kleine Schwester und die alkoholkranke Mutter, die häufig schwer zu ertragen ist. Mehrere Jobs, Geldsorgen und Erziehungsstress schnüren ihren Alltag ein. Kaum Zeit für das Studium und die eigene Entwicklung. Ihre regelmäßigen 22 Bahnen im Freibad sind Tildas winzige Flucht. Im Freibad trifft sie schließlich auch Viktor. Mit ihm und einer in Aussicht stehenden Promotionsstelle an der Humboldt-Universität Berlin, eröffnen sich Tilda plötzlich verlockende, befreiende Perspektiven auf ein neues, ganz anderes Leben. Aber kann sie Ida bei der Mutter zurücklassen?!

Caroline Wahl ist es gelungen, die alltägliche Geschichte der komplizierten und belasteten Lebenssituation einer jungen Frau auf eine sehr einfühlsame, leichte, ja angenehm unsensationelle Art zu erzählen. Sehr einfühlsam und leise lenkt die Autorin den Blick der Leser*innen auf Tildas beschwerlichen Alltag, der dadurch umso realitätsnaher erscheint. Ausgesprochen sicher bleibt sie dabei immer diesseits der Kitschgrenze und zeigt gerade dadurch einen großen Respekt vor ihren Figuren. 

22 Bahnen von Caroline Wahl ist ein relevanter, frischer, junger Roman, der mich bewegt hat und durch seine unkonventionelle, klare Sprache überzeugt. Ein starkes Debüt.

  • Caroline Wahl, 22 Bahnen
  • Taschenbuch, 205 Seiten
  • DuMont Buchverlag, Köln, 2023
  • ISBN 978-3-8321-6724-0
  • Preis: 13 €
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