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Georges Simenon, „Pietr der Lette“

Vor einiger Zeit war mir aufgefallen, dass ich in diesem Jahrtausend noch keinen Maigret gelesen hatte. Dabei hatten mich Georges Simenons Maigret-Romane immer fasziniert. Ungekünstelte, knappe, ja geradezu hastig niedergeschrieben wirkendende Geschichten, von großer Menschlichkeit und Mitgefühl.

Der „Whydunit“ als wegweisende Neuerung in der Kriminalliteratur

Im aktuellen Jahrtausend liegt der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zweifelsohne auf Meisterdetektiven wie Sherlock Holmes oder Hercule Poirot. Uns allen bestens bekannte Ermittler, die man als direkte Gegensätze zu Kommissar Maigret einordnen könnte. Außenseiter und rationale Logiker sind derzeit „en vogue“. Intellektuelle Superstars, die den Tätern durch stringente Deduktion und das Zusammenführen scheinbar unzusammenhängender Details auf die Spur kommen. Die idealen Vertreter des klassischen „Whodunit“-Kriminalromans.

 

„Literaturgeschichtlich markiert Pietr der Lette den Schritt vom Whodunit, in dem nach dem Täter gefragt wird, zum viel weiter greifenden Whydunit, der nach dem Warum fragt. [Tobias Gohlis]“

Portrait auf dem Einband einer Ausgabe der 1960er

 

Bei Simenons Maigret-Krimis steht dieses quasi genrebildende „Whodunit“- Prinzip nahezu vollständig im Hintergrund. Maigret ist kein Superstar, sondern im Gegenteil, ein bürgerlicher, mitten im Leben stehender, verbeamteter Pariser Kommissar, der sich vor Allem für die psychologische Analyse der Tat interessiert. Er ist ein empathischer Ermittler, der nach dem Warum fragt, den Umständen, persönlichen Beweggründen und gesellschaftlichen Bedingungen der Tat. In diesem Sinne ein „Whydunit“! Ein Maigret-Krimi überführt keine mordenden Monster, sondern verzichtet auf das Mysterium des Bösen, indem er die Täter*innen als Menschen, oft in Notsituationen, versteht. Empathische Intuition, contra logische Deduktion. Eine wegweisende Neuerung in der Kriminalliteratur.

 

»Verstehen und nicht urteilen« ist das Motto Simenons. [Tobias Gohlis]“

 

Um sich einem Maigret anzunähern, muss man sich zunächst einmal ausgiebiger mit dem Autor befassen. Der belgische Schriftsteller Georges Simenon, *1903 in Lüttich, +1989 in Lausanne, gilt als der wohl erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, wobei gerade die „non-Maigrets“ den Großteil seines Werks ausmachen.

Allein die Zahlen sind überwältigend. So veröffentlichte Simenon 193 Romane (75 Maigrets), 167 Erzählungen (28 Maigrets) und zahlreiche andere Werke. Unter Pseudonym kommen noch an die 200 Groschenromane und, sage und schreibe, 1.000 erotische Erzählungen hinzu, die er für Zeitschriften verfasste. Simenon wurde in über 60 Sprachen übersetzt, was ihn im Jahr 1989 auf Platz 18 der UNESCO-Statistik der meistübersetzten Autoren der Welt katapultierte. Seine Gesamtauflage wird auf schlappe 500 Millionen beziffert. Dazu kommen noch weit über 60 Verfilmungen und unzählige TV-Adaptionen. Atemberaubend.

 

Ein Literat, der keine literarische Sprache verwendet

Was macht den besonderen Reiz dieses Autors, insbesondere seiner Maigret-Krimis aus? – Für mich persönlich ist das leicht zu beantworten. Es ist Georges Simenons präzise, geradezu minimalistische Sprache, mit der es ihm sofort gelingt, eine dichte, sehr unmittelbar wirkende Atmosphäre zu erschaffen.

In jungen Jahren war Simenon zunächst in Lüttich als Lokalreporter tätig und berichtete besonders gerne über Kriminalfälle. Diese frühe Schule ist offenbar die Grundlage seines einfachen, sachlichen, journalistisch geprägten Stils, dem er später als Schriftsteller ganz bewusst die Treue hielt. Statt als Literat eine „literarische Sprache“ zu verwenden, drückt Simenon sich in seinen Krimis voller Absicht einfach und direkt aus. In einer Studie zu den Maigret-Romanen wurde ein Vokabular zwischen 895 und 2300 Wörtern ermittelt, dass zu 80 % aus dem Grundwortschatz stammt und weniger als 2 % seltene Begriffe enthält. Der schlichte, minimalistische Stil ist das Markenzeichen der Maigret-Krimis. Unverwechselbar.

Häufig wird eine gewisse Unfertigkeit der einzelnen Maigret-Romane kritisiert. Und tatsächlich sind die Geschichten meist nicht sehr komplex oder stringent komponiert. Nicht selten hat es zudem den Anschein, dass sie sehr unvollkommen erzählt sind. Fehlende Spannungsbögen, unsaubere Stilmittel, Schwächen im Handlungsaufbau, usw. Es ist nachzulesen, dass Georges Simenon einem Lektorat ablehnend gegenüberstand. Das ist den Maigrets tatsächlich anzumerken.

Man kann jetzt zwar spekulieren, dass es sich hier um „Schwächen“ der Romane handeln könnte, die der enormen Produktivität des Autors geschuldet sind, aber aus meiner persönlichen Sicht, korrespondiert gerade diese „unlektorierte Unfertigkeit“ ausgesprochen gut mit der einzigartigen journalistischen Sprache Simenons. Neben der Sprache verleiht die gewisse „Unfertigkeit“ den Romanen ihren besonderen Ton.

 

Kommissar Maigret betritt die Bühne

Ich hatte die Maigret-Romane immer ohne Beachtung einer bestimmten Reihenfolge gelesen. Das ist im Grunde auch nicht erforderlich. Trotzdem übt natürlich jeder erste Roman einer lockeren Reihe unweigerlich eine besondere Anziehungskraft auf die Leserschaft aus. Ganz klar, mein Maigret-Neustart im neuen Jahrtausend sollte mit Band eins „Pietr der Lette“ beginnen.

Auch wenn Simenon bereits vor 1931 vier Detektivgeschichten verfasst hatte, in denen Kommissare namens Maigret auftauchten, haben wir es hier erstmals mit dem „richtigen“ Maigret zu tun. Der erste Band ist damit automatisch ein Meilenstein der Kriminalliteratur, allerding nicht der stärkste Maigret.

Es ist der erste Auftritt des weltberühmten Kommissars, mit Melone und Pfeife eine auf wenige Merkmale reduzierte, geradezu ikonische Figur.

 

„Wenn dieser Jules Maigret bei seinem Debüt in der Literaturgeschichte die Garde du Nord betritt, ist er vollständig da. Ein Meter achtzig groß, gehüllt in einen dicken Mantel mit Samtkragen, im Mund die Pfeife, auf dem Kopf die Melone: »Groß und mächtig, mit seinen imposanten Schultern, die einen breiten Schatten warfen. Er wurde angerempelt, schwankte aber so wenig wie eine Mauer.« [Tobias Gohlis]“

 

Die Geschichte beginnt im November in Paris. Wie bei Simenon üblich, wird das nasskalte, regnerische Wetter, als wesentlicher Teil in den Plot einbezogen. Ein knappes Telegramm von Interpol kündigt dem Pariser Kriminalkommissar die Ankunft Pietr des Letten im Fernzug Nordexpress an. Ein von Interpol gesuchter Betrüger, den Maigret am Bahnhof erwartet. Zu seiner großen Überraschung erscheinen jedoch gleich zwei Männer, auf die die Beschreibung von Pietr des Letten zutrifft. Während einer von Ihnen im luxuriösen Hotel Majestic absteigt, wird der zweite tot auf einer Zugtoilette gefunden. Maigret begibt sich in das Hotel, doch der Mann ist verschwunden. Mit ihm zusammen auch ein vermögender Geschäftsmann. Maigret versucht dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Wie in allen späteren Maigret-Romanen handelt es sich auch bei „Pietr der Lette“ um eine Geschichte von den Leiden und Schmerzen des Lebens. Die typische Suche nach dem Schuldigen und dessen persönlichen Hintergründen, die den Täter zu seinen Verbrechen geführt haben.

 

Was bleibt

Natürlich ist auch Simenons besondere Sprache bereits im ersten Maigret-Roman erkennbar und macht „Pietr der Lette“ zu einer atmosphärisch dichten Studie des Pariser Milieus der 1930er Jahre. Insgesamt muss man jedoch zugeben, dass der Plot eindeutig zu den schwächeren der Reihe zählt. Naturgemäß ist auch die Figur des Maigret in „Pietr der Lette“ noch nicht in der gewohnten Weise moduliert und weist in Statue und Verhalten noch zahlreiche Ungereimtheiten auf.

Trotz dieser Schwächen ist „Pietr der Lette“ aber bereits ein „richtiger“ Maigret und als Start der Reihe ganz sicher ein Meilenstein der Kriminalliteratur. Wer Krimis liebt, muss Maigret gelesen haben!

  • Georges Simenon, (Maigret und) Pietr der Lette
  • Aus dem Französischen von Susanne Röckel, 2019
  • Mit einem Nachwort von Tobias Gohlis
  • OA: „Pietr le Letton“, Paris, 1931
  • DE: „Nordexpress“, 1935
  • Taschenbuch, 232 Seiten
  • Atlantik – Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2021
  • ISBN: 978-3-455-00695-7
  • Preis: 13 €

 

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