Gesellschaftsroman

Elfi Conrad, „Als sei alles leicht“

Es ist sicherlich ungewöhnlich, die Vorstellung eines neuen Romans mit dem Hinweis auf dessen Vorgänger zu beginnen. Im Falle des vor Kurzem erschienenen „Als sei alles leicht“ von Elfi Conrad, möchte ich aber ausnahmsweise so verfahren.

Der Vorgängerroman „Schneeflocken wie Feuer“ war ein ausgesprochen großer Erfolg bei Leserschaft und Kritik. Eine autofiktionale Geschichte, in der sich die 1944 geborene und mittlerweile achtzig Jahre alte Elfi Conrad mit ihrer eigenen Jugend auseinandersetzte. Anstelle der Autorin erinnerte sich in „Schneeflocken wie Feuer“ die achtzigjährige Dora an ihre Schülerinnenzeit im Harz, Anfang der 1960er Jahre. Doras Familie war kurz nach ihrer Geburt gegen Ende des zweiten Weltkriegs aus Niederschlesien geflohen und, von Flucht und Diktatur gezeichnet, in Clausthal-Zellerfeld/Harz sesshaft geworden. Aus den sehr verschiedenen Perspektiven der 80jährigen und 17jährigen Dora entstand in „Schneeflocken wie Feuer“ ein Bild der gesellschaftlichen Enge und Erstarrung der Bundesrepublik zu Beginn der 1960er Jahre. Dora begehrte auf, gegen die Verhältnisse, die traditionellen Frauenbilder und patriarchalen Strukturen. Ein Kampf um Zukunft und Selbstbestimmung als Frau. „Schneeflocken wie Feuer“ war ein sehr persönliches Buch, dass mich außerordentlich angesprochen und berührt hat.

Auch in ihrem neuen Roman „Als sei alles leicht“ setzt sich Elfi Conrad wieder mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander, indem sie ihren Blick auf die Vorgeschichte von „Schneeflocken wie Feuer“ richtet. Dieses Mal eine in weiten Teilen fiktionale Erzählung, die auf den Erinnerungen ihrer Mutter basiert.

Januar 1945, die letzten Monate des zweiten Weltkriegs. Dora ist noch ein Baby und wie Millionen andere Deutsche auf der Flucht vor der herannahenden Roten Armee. Mutter Ursula, Großmutter Margarete und Schwester Katharina haben sich gemeinsam mit Baby Dora auf den gefährlichen Weg von Niederschlesien in Richtung Westen gemacht. Die Frauen der Familie sind auf der Flucht, die Männer irgendwo im Krieg.

Jetzt Anfang 1945 sitzen sie erst einmal in einem Flüchtlingslager in Tschechien fest. Tschechien, als sogenanntes „Protektorat Böhmen und Mähren“ steht zwar immer noch unter Kontrolle der Nationalsozialisten, aber das Ende des dritten Reichs ist überall zu spüren. Schon lange leidet die tschechische Bevölkerung unter der brutalen, von Zwangsarbeit und Deportationen geprägten deutschen Besatzung. Die Situation im Lager ist entsprechend angespannt. Unzureichende Versorgung, Überfüllung, mangelnde Hygiene, Brutalität, Willkür, Ausgeliefertsein. Die Insassen, allesamt Flüchtlinge, hoffen auf eine Zugfahrkarte ins westliche Deutschland. Aber die ist nicht einfach zu bekommen. Für die deutschen Flüchtenden wird immer deutlicher, dass sie jetzt die Ausgestoßenen sind.

 

„Das Wort Flüchtling hat einen bösen Klang. Es kling nach »Untermensch«, »Asozialer«, »Fremdrassiger«. Wörter, die plötzlich grausam wirken. Jetzt sind sie die Ausgestoßenen und die anderen die, die nichts mit ihnen zu tun haben wollen.“

 

Elfi Conrad lässt in „Als sei alles leicht“ die drei Frauen und das Baby persönlich zu Wort kommen. Jedes Kapitel, wird jeweils aus der Perspektive von Ursula, Magarete, Katharina oder sogar dem Baby Dora erzählt. Sehr intensive, subjektive Erzählperspektiven, mit denen wir durch die Augen der Frauen ganz unmittelbar auf die Gefahren des Lagerlebens und der weiteren Flucht blicken.

Die wechselnden persönlichen Perspektiven ermöglichen zudem einen direkten Vergleich der sehr verschiedenen inneren Kämpfe, Empfindungen und Bewältigungsstrategien der Frauen, die unterschiedlich tief in den Nationalsozialismus verstrickt sind.  Die Spanne reicht dabei vom unschuldigen Baby Dora bis hin zu der, dem Führer verfallenen, Mutter Ursula. Gerade Ursula ist im Grunde immer noch, eine glühende Verehrerin Adolf Hitlers. Dieser Führer, der ausgerechnet an ihrem zehnten Geburtstag an die Macht kam und dem sie ihre privilegierte, unbeschwerte Jugend in der BDM-Gemeinschaft, inklusive einer besonderen Stellung als Jungmädelführerin, zu verdanken hat. Hitler übt weiterhin eine magische Anziehungskraft auf Ursula aus. Langsam beginnt die grausame Wahrheit jedoch zu ihr durchzudringen. Ursula ringt mit ihrer persönlichen Schuld und der Bedeutung des Führers in ihrem Leben. 

 

Konnte sie denn ahnen, dass der Verehrte es gar nicht ernst meinte mit dem gleichen Recht für alle? Dass alles nur galt, solange sie jung waren? Dass der Führer für sie eine größere Einengung vorsah, als sie in früheren Zeiten üblich war, sobald sie Frauen wären? Dass er es auf ihre Gebärmutter abgesehen hatte, auf sonst nichts? Ja sie hätte es merken müssen…“

 

Besonders eindrucksvoll werden diese Innenansichten dadurch, dass Elfi Conrad ihnen immer auch die eigene Stimme als übergeordnete, kommentierende Instanz zur Seite stellt. Sie setzt die persönlichen Perspektiven der Frauen damit in einen einordnenden historischen Kontext und arbeitet auf diese Weise die zentralen Themen der Geschichte heraus. Diese Rationalität und Reflektiertheit des andererseits ja sehr persönlichen Textes, hat mich auch schon beim Vorgängerroman „Schneeflocken wie Feuer“ ausgesprochen beeindruckt.

 

„»Und was ich ganz wichtig finde, Mutti«, fügte sie hinzu und lächelte glücklich, »es ist völlig egal, ob wir Männer oder Frauen sind. Die Frauen sind genauso viel wert wie die Männer. Sie leisten genauso viel fürs Reich wie die Männer!« – Erst später werden sie erfahren, wie sich Hitler das mit den Frauen gedacht hatte. Welchen Zweck sie wirklich erfüllen sollten. Von wegen Gleichheit! Hätten Sie hingehört bei den Reden vor der Nazi-Frauenschaft, hätten sie gewusst, wozu sie da sein sollten.“

 

Krieg ist ein Zivilisationsbruch, der immer mit massiven Menschenrechtsverletzungen einhergeht und in dem gerade Frauen in besonderem Maße geschlechtsspezifischer Gewalt und Druck ausgesetzt sind. Das gilt auch für Flüchtlingslager, in denen die bestehenden gesellschaftlichen Machtstrukturen besonders extrem und unmittelbar ans Tageslicht treten. Und so setzt sich dieser aus weiblicher Perspektive erzählte Roman einer Fluchtgeschichte, unweigerlich auch mit den Erscheinungsformen männlicher Machtausübung und Gewalt gegen Frauen auseinander, bzw. mit den Strategien der Frauen, dieser zu begegnen.

Insgesamt verzichtet die Autorin weitgehend auf allzu explizite Darstellungen des Grauens. Daraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, der Roman sei harmlos oder werde den furchtbaren Schicksalen nicht gerecht. Ganz im Gegenteil. „Als sei alles leicht“ ist zwar lediglich 115 Seiten kurz, aber ein sehr verdichteter Text. Für uns Lesende ist klar, mit jedem der neunzehn, nur wenige Seiten knappen Kapitel, lediglich sorgfältig ausgewählte Episoden vor uns zu haben. Ein Konzentrat, dass unweigerlich vieles unausgesprochen lässt. Es ist sozusagen „die Spitze des Eisbergs“. Und gerade die Auslassungen verlangen danach, durch unsere Phantasie gefüllt zu werden, die uns aufgrund der Umstände Schlimmstes erahnen lässt. Ein sehr gelungener, überzeugender Kunstgriff der Autorin.

Interview mit Elfi Conrad Dez. 23

Es ist zudem von großem Gewinn, den Vorgängerroman „Schneeflocken wie Feuer“ und das aktuelle Buch „Als sei alles leicht“ im Zusammenhang zu lesen. Auf diese Weise eröffnet sich mit besonderer Wucht, die in beiden Einzelromanen bereits angedeutete, Perspektive der Entstehung und Weitergabe von Kriegs-, Missbrauchs- und Gewalttraumatisierungen über mehrere Generationen hinweg. Die Darstellung und Ergründung transgenerationaler Traumata sind eine große Klammer, die beide so unterschiedliche Romane zu einer Einheit zusammenfasst. Ein lange vernachlässigtes und vielfach unterschätztes Thema, dass längst nicht nur die Menschen in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit betrifft.

 

„Ihren unersättlichen Körper wird sie im Zaum behalten durch Sublimierung, von der sie nichts weiß und von der sie erst im Studium erfahren wird. Und durch eiserne Disziplin, die ihr ihr Vater einprügeln wird. Dieser hilflose Mann, der mit siebzehn in den Krieg gezogen ist und als Befehlshaber und Versehrter zurückkommen wird. Der seine Fähigkeit zur Erziehung im Alter von dreiundzwanzig mit aller Macht unter Beweis stellen will.“

 

Elfi Conrads „Als sei alles leicht“ ist ein nachhaltig bewegender Roman über Flucht, Schuld, Verstrickung und sexualisierte Gewalt. Ein beklemmendes Zeitzeugnis, gerade heute von großer Aktualität.

Und wieder einmal ist es die einzigartige Stimme der Autorin, die besonders beeindruckt. Diese unaufgeregte, klare, ja analytische Sprache, die dem relevanten Text auch eine poetische Nuance hinzufügt und zu einem literarischen Erlebnis macht.

Meine uneingeschränkte Empfehlung.

 

„Das die Freiheit auf Sand und dem Leid anderer gebaut war, wussten sie nicht. Wollten sie nicht wissen.“

  • Elfi Conrad, Als sei alles leicht
  • Hardcover, 115 Seiten
  • mikrotext, Berlin, 2025
  • ISBN 978-3-948631-58-1
  • Preis: 22 €
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