Heinz Strunk, „Ein Sommer in Niendorf“
Der 1962 in Bevensen geborene Heinz Strunk ist eine vielseitige, facettenreiche Person. Schriftsteller, Musiker, Produzent, Drehbuchautor, Satiriker, Regisseur. Besonders bekannt ist er aber für seine humoristischen und oft auch düsteren Werke, die häufig gesellschaftliche Themen aufgreifen. Sein Roman „Ein Sommer in Niendorf“ stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022. Heinz Strunk lebt in Hamburg Altona.
„Fühlt sich an wie eine Novelle…“
…war mein erster Gedanke, unmittelbar nachdem ich die Lektüre des Romans beendet hatte. Und tatsächlich wird der Titel „Ein Sommer in Niendorf“ nicht zuletzt vom Verlag, in einem Atemzug mit Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ genannt. Zumindest inhaltlich sind auch zahlreiche Anlehnungen an die berühmte Novelle zu entdecken. Spannend. Um diese Rezension aber nicht völlig ausufern zu lassen, erlaube ich es mir, es bei diesen Andeutungen zu belassen.
Der 51-jährige vermögende Wirtschaftsjurist Georg Roth ist der Protagonist in Heinz Strunks Roman „Ein Sommer in Niendorf“. Obwohl von Hause kein Schriftsteller, würde er sich zweifellos und ohne Zögern sofort in einer Liga mit Thomas Manns 50-jährigen Gustav von Aschenbach einsortieren. Diese Überheblichkeit ist eines der großen Themen des Romans.
Drei Monate vor einem Jobwechsel hat sich dieser Georg Roth vorgenommen, noch kurz seine Familiengeschichte für die Nachwelt zu Papier zu bringen. Selbstverständlich auf allerhöchstem Niveau! Dazu hat es ihn ausgerechnet in das bechauliche Ostseebad Niendorf verschlagen, dass im Gegensatz zu seinen extravaganteren, ja mondänen Nachbarorten Travemünde und Timmendorfer Strand, bodenständig und verschlafen daherkommt.
Es ist sein erster Versuch als Schriftsteller, aber kein Problem, er hat alles exakt geplant. In drei Monaten soll die erste Fassung stehen. Zunächst sechsundsechzig Stunden Rohmaterial sichten (Immerhin 44 Tonbänder). Dann einfach weiter – eine Stunde gleich eine halbe Seite – mal 5 (Tagespensum) – mal 90 (Tage) gleich 225 Seiten – Fertig! Peanuts sozusagen, für einen mustergültig disziplinierten, fleißigen und beharrlichen Juristen wie ihn. Selbstverständlich bei allerhöchsten Ambitionen! Man merkt, „Ein Sommer in Niendorf“ hat durchaus sehr komische Züge.
“Vater, Mutter, Onkel Karl und die meisten anderen Zeitzeugen sind inzwischen verstorben, jetzt müssen keine Rücksichten mehr genommen werden, jetzt kann man was daraus machen: Buch, Hörbuch, E-Book, Podcast, vielleicht findet sich sogar jemand, der den Stoff verfilmt. Netflix oder Amazon Prime oder RTL+ oder Disney+; ein Mehrteiler im Öffentlich-Rechtlichen. Sowas.”
In auffallender Parallelität zu diesen maximalen literarischen Ambitionen, enthält auch „Ein Sommer in Niendorf“ zahlreiche literarische Anspielungen und Bezüge. Gleich zu Beginn stößt Roth auf eine Gedenktafel, die an das Niendorfer Treffen der legendären „Gruppe 47“ im Jahre 1952 erinnert. Gerne kommt der Neu-Schriftsteller im Verlaufe der Geschichte dann auch wiederholt auf die Gruppe 47 und deren prominente Mitglieder zu sprechen. Passend dazu blättert er ausgiebig in „Herzzeit“, dem Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. An anderer Stelle wird von einem geplanten Ausflug ins Lübecker Buddenbrookhaus berichtet. Dann wiederum erinnert er sich an seinen aus dem Zauberberg zitierenden Vater. Der Protagonist fühlt sich halt einfach hingezogen zur großen Literatur. Alles erste Liga. Genau wie sein Buchprojekt. Ein herrlicher Kontrast zu seiner Lebenswirklichkeit.
Bürgerliche Überheblichkeit
Sind Georg Roths literarischen Ambitionen noch amüsante Seiten abzugewinnen, tun sich bei seinen sozialen Kompetenzen wahre Abgründe auf. Der 51-jährige Wirtschaftsjurist ist ein elitärer Misanthrop, der sich unablässig über seine Mitmenschen erhebt. Voreingenommen, anmaßend, überheblich. Gnadenlos blickt er nicht nur auf Urlauber und Einwohner des Niendorfer Mikrokosmos herab, auch seiner zerrütteten Familie begegnet er mit gefühlskalter Härte und Überlegenheitsgefühlen. Er belügt seine Tochter, die ihn aus der Bahn geworfen um Geld bittet und schlägt seine, in die Fänge einer obskuren Sekte geratene, geschiedene Ehefrau.
Wenig überraschend, dass Georg Roths genereller Blick auf Frauen von Überlegenheitsgefühlen, Sexismus oder gar Infantilität bestimmt ist. Für die Romanfigur ist das zwar durchaus stimmig angelegt, irritiert hat mich allerdings, dass in dem gesamten Roman überhaupt keine starke Frauenfiguren zu finden sind. Roths Tochter, seine Ex-Frau, eine Geliebte, eine Kellnerin, eine ältere Nachbarin, Bredas Partnerin, alle Frauen des Romans befinden sich Roth gegenüber aus gesellschaftlichen oder persönlichen Gründen in unterlegenen Positionen. Mit dem Plot des Romans ist das nicht zu erklären.
Der Roman entlarvt Georg Roths demonstrativ zur Schau getragene Bürgerlichkeit, indem er die große Kluft zwischen Selbstwahrnehmung und Lebensrealität des promovierten Juristen deutlich und brutal offenlegt. Schon lange ist Roth ein gescheiterter und tief verunsicherter Mann. In Niendorf beginnt sein Leben dann allerdings völlig zu entgleisen.
Verfall und Niedergang
Gleich zu Beginn seines Aufenthalts trifft er auf Markus Breda, den Verwalter seines Appartements und auf den ersten Blick sein Gegenentwurf. Der dem Alkohol verfallene Breda lebt zusammen mit seiner Partnerin Simone in einer schäbigen Wohnung am Rande der Gesellschaft. Als vermeintliches Multitalent hält er sich gerade so über Wasser. Neben einer Tätigkeit als Verwalter einiger Mietwohnungen ist er noch Strandkorbvermieter und Inhaber des Spirituosengeschäfts „Likördepot“. Dort sitzt Breda sozusagen an der Quelle.
„Breda, Typ krummer, langer Lulatsch mit Plauze, strohiges Haar, pergamenthäutig, dünne Ärmchen und Beinchen, hat das Äußere eines chronischen Alkoholikers. Unter seinem engen T-Shirt zeichnen sich ein halbes Dutzend Speckrollen und zwei auf den Sauf-Spitzbauch herabhängende Titten ab.“
Als Roths einzige Niendorfer Bezugsperson zieht Breda ihn schnell hinab in die Welt des Alkohols und der Verwahrlosung. Exzessives Saufen, erbärmliche Abstürze, ausufernde Filmrisse. Die bürgerliche Fassade lässt sich kaum mehr aufrechterhalten. Der sich überlegen wähnende Rot findet sich in einer steilen Abwärtsspirale wieder. Ein Strudel aus Erbrochenem, Blut, Kot und Ekel, an dessen Grund letztendlich die Infantilität auf ihn wartet.
Körperlicher Verfall und gesellschaftlicher Niedergang sind neben der Überheblichkeit die anderen großen Themen des Romans, der die Unterschiede zwischen Roth und Breda immer mehr verwischt.
Kopfkino
Das alles wird vom Autor sprachlich sehr beeindruckend in Szene gesetzt. Gerade die Personenbeschreibungen und Trinkexzesse, sind deftig, teilweise explizit dargestellt und wirken ausgesprochen authentisch. Heinz Strunks Prosa erzeugt Bilder direkt für das Kopfkino. „Danke, zu viel Information“, möchte man an mancher Stelle gerne ausrufen.
„Unter Roths Achseln lösen sich dicke Schweißtropfen und laufen über seine Rippen wie kalte Schnecken. Garantiert stinke ich aus dem Maul. Er haucht in seine Handfläche, der Atem dunstet abgestanden, steinig und schwer. Altmännerbrodem.“
Die Sprache des Romans ist direkt, roh und alltagsnah. Zudem wird die Erzählweise häufig von dialogischen Sequenzen unterbrochen, die besonders realistisch wirken, weil sie auf tatsächlichen Tonbandmitschnitten des Autors in düsteren Kaschemmen beruht. Das alles ist mitunter hart zu lesen aber äußerst stimmig.
Bleibt noch zu erwähnen, dass der Roman im Präsens erzählt wird. Eine nicht ganz unproblematische Erzählzeit, die immer häufiger anzutreffen ist und nicht selten sehr sperrig und bemüht klingt. In diesem Fall jedoch, hat Heinz Strunk damit die ideale Wahl getroffen. Der schnörkellosen, direkten, realistischen Stimme des Romans kommt das Präsens vortrefflich entgegen. Großartig und ein Erlebnis.
Was bleibt
Heinz Strunks Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist mehr als die Chronik eines Absturzes. In derber, realistischer und deutlicher Sprache wird der bürgerlich-überhebliche Mann mittleren Alters demaskiert. Ein nicht gerade neues Sujet, aber straff erzählt, intelligent gemacht und sprachlich äußerst gelungen. Körperlicher Verfall und gesellschaftlicher Niedergang werden mit einer so wunderbar bösen hintergründigen Komik serviert, dass den Lesenden das Lachen im Halse stecken bleibt.
- Heinz Strunk, Ein Sommer in Niendorf
- Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2022
- Hardcover, 240 Seiten
- ISBN 978-3-644-01305-6
- Preis: Hardcover 22 €; e-book 9,99 €