Solvej Balle, „Über die Berechnung des Rauminhalts III“
Mir ist keine andere Romanreihe bekannt, die es mehr verdient hätte, mit dem Begriff „faszinierend“ bezeichnet zu werden, als das auf sieben Bände angelegte Romanprojekt „Über die Berechnung des Rauminhalts“ der dänischen Schriftstellerin Solvej Balle. Schon die ersten beiden Bände der Reihe konnten mich in ihrer literarisch-philosophischen Vielschichtigkeit und Tiefe begeistern.
Kurz zur Erinnerung
Die französische Buchhändlerin Tara Selter ist in einer Zeitschleife gefangen und erwacht jeden Tag aufs Neue im 18. November. Während es für ihre Mitmenschen immer wieder ihr erster 18. November ist, weil sie keinerlei Erinnerungen an dessen Vorgängerversionen haben, kann sich Tara Selter jedoch an alles erinnern.
„Der achtzehnte November wiederholt sich, und die Passagiere des achtzehnten Novembers tragen nicht verschiedene Hemden zur gleichen Zeit des Tages. Im achtzehnten November haben Menschen Muster, und solange man sie nicht von ihren festgelegten Routen wegzieht, halten sie sich an die Plätze, die sie einnehmen.“
Der erste Band der Reihe beschäftigt sich mit Taras Versuchen, die Physik dieser endlosen Wiederholungen zu verstehen und ihre neue Lebensrealität anzunehmen. In dieser Zeit entfremdet sie sich immer mehr von ihrem Mann Thomas, der sich durch sein Vergessen nicht weiterentwickelt und zwangsläufig auf der Stelle stehenbleibt. Tara hingegen entwickelt und verändert sich. Sie zieht sich immer mehr in die Rolle einer stillen Beobachterin zurück und gibt sich mit ihren Gedanken und Reflexionen ganz der Monotonie immerwährender Wiederholungen hin. Dabei durchmisst sie eine neue unbekannte Welt, die sich ihr völlig veränderte darstellt. Sie erfährt die angehaltene Zeit nicht nur als physische und philosophische, sondern vor allem auch als eine existenzielle, emotionale Herausforderung.
In Band Zwei wendet sich Tara Selter dann zunehmen der Vermessung ihrer Existenz in der ihr verbleibenden Außenwelt des 18. Novembers zu. Gefangen im November fehlen ihr die Wechsel der Jahreszeiten. Frühlingssonne, warme Sommerabende, weihnachtlicher Schnee. Sie verlässt das gemeinsame Heim in Nordfrankreich und beginnt quer durch Europa den Jahreszeiten hinterher zu reisen.
Eine Zäsur
Der Cliffhänger gegen Ende des zweiten Bandes hatte es bereits angedeutet. Band Drei hält für die Lesenden und natürlich auch für Tara Selter eine große Zäsur bereit. Völlig unerwartet trifft sie auf drei weitere Menschen, die ebenfalls aus der Zeit gefallen und in der Zeitschleife des 18. Novembers gefangen sind. Henry Dale, Ralf Kern und die gerade erst 17-jährige Olga Periti. Ein gelungener Kunstgriff der Autorin.
„Wir sind eine wunderliche Versammlung in einem Zeitbehälter. Falls Zeit überhaupt ein Behälter ist, sagt Henry. Für ihn sei sie eher wie ein Zug, in dem wir uns ins selbe Abteil gesetzt hätten. Als wären wir auf Reisen.“
Mit der Einführung der neuen Figuren gewinnt die im zweiten Band leicht schleppend gewordene Handlung wieder an Fahrt. Die introvertierte Tara hatte sich immer mehr auf die Rolle der außenstehenden Beobachterin zurückgezogen. Ein selbsternannter stiller Geist, der neben der Welt existiert und bemüht ist, keine Spuren seiner Existenz zu hinterlassen. Ein Vermessen des verbleibenden Raumes in Einsamkeit und Monotonie.
Mit Henry, Ralf und Olga werden Taras introvertierter Vermessung ihrer Existenz dagegen neue Perspektiven hinzugefügt. Die drei haben nämlich ihre ganz eigene, offensive Sicht auf das Dasein in der Zeitschleife. Endlich! Möchte man beinahe ausrufen. Besonders Ralf Kerns Ansatz ist zunächst einmal von ganz profaner, dafür aber umso naheliegenderer Natur. Als Gefangener einer Zeitschleife, die jeden Tag immer wieder auf null zurückstellt, meldet er sich bei seiner Arbeit krank und geht schlicht und einfach in die Kneipe. An anderen 18. Novembern shoppt er sich durch den Tag, kauft teure Klamotten, teure Autos oder veranstaltet exzessive Partys mit Kollegen. Konsequenzen gibt es ja offensichtlich keine.
Ähnlich praktisch und direkt wächst in ihm der Drang, seine besondere Existenz in der Zeitschleife zum Wohle der ahnungslosen Mitmenschen einzusetzen. Mit größter Akribie und Hilfe seiner besonderen IT-Kenntnisse, beginnt er ein System zur Verhinderung von Unfällen und Unglücken zu entwickeln. Das „Better-Day-Zystem“. Ralf verspürt den Drang einzugreifen und zumindest die Welt des 18. Novembers irgendwie besser zu machen.
„Wenn wir eines Tages aufwachen und es keinen achtzehnten November mehr gibt, sind wir dann nicht dafür verantwortlich, dass der Tag, den wir hinterlassen, der bestmögliche aller achtzehnten November ist?“
Damit gerät er in Konfrontation zu Olga Peritis Ansatz. Ralfs Rettungspläne sind für sie lediglich unwesentliche Korrekturen an Symptomen, das Flicken winziger Löcher im Deich. Olga sieht den Sinn ihrer Existenz stattdessen in der Aufgabe, die Welt WIRKLICH zu beeinflussen. Sie will den Ursachen auf den Grund gehen und nichts weniger als das gesamte System verändern.
Sprachlich und erzählerisch weiter auf hohem Niveau
Bei aller in Band III einsetzender Dynamik bleibt das besondere sprachliche und erzählerische Niveau der Vorgängerbände erhalten. Die Geschichte wird weiterhin ausschließlich aus Tara Selters persönlichen Ich-Perspektive erzählt, was ausgesprochen gut mit dem introvertierten Ansatz ihrer Vermessung der Existenz korrespondiert. Verstärkt wird diese große Innerlichkeit noch durch den Umstand, dass sämtliche Gespräche auch in Band III in indirekter Rede der Ich-Erzählerin wiedergegeben werden. Die schillernde, entrückte Melancholie der Reihe bleibt erhalten.
In diesem Zusammenhang muss natürlich Peter Urban-Halle besonders erwähnt werden, der auch Band III aus dem Dänischen übersetzt hat. Der 1951 in Halle (Saale) geborene Literaturkritiker und Übersetzer hat Tara Selters Stimme im Deutschen wieder einen wundervollen Klang gegeben, der dem Text einen gefühlvollen, nahezu poetischen Ton verleiht. Herausragend.
Was bleibt
Auch der dritte Band aus Solvej Balles Romanprojekt „Über die Berechnung des Rauminhalts“ kann das ausgesprochen hohe Niveau der Reihe problemlos halten. Die literarisch-philosophische Vermessung menschlicher Existenz unter dem Brennglas einer physikalischen Anomalie ist einzigartig und kann mich weiterhin nachhaltig begeistern.
Keine ganz leichte Kost, aber wunderbar gelungen. Faszinierend…
„Da saßen wir also, vier wunderliche Figuren auf dem Weg in Richtung Tod und in einer Welt, in der die Zeit stehen geblieben war.“
- Solvej Balle, Über die Berechnung des Rauminhalts III
- Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
- OA: „Om udregning af rumfang, III“
- Hardcover, 185 Seiten
- MSB Matthes & Seitz Berlin, Verlagsgesellschaft mbH
- ISBN: 978-3-7518-0928-3
- Preis: 22 €
Zu den Rezensionen der ersten Bände der Reihe: