Kris Brynn, „Born“
Kris Brynn ist eines der Pseudonyme der 1968 in Stuttgart geborenen Autorin Regine Bott, die bereits auf zahlreiche Veröffentlichungen und Preisverleihungen, wie z.B. den Phantastik-Literaturpreis SERAPH 2019, zurückblicken kann. Die Science-Fiction bildet sicherlich einen Schwerpunkt ihrer literarischen Tätigkeit.
Auch bei „Born“, veröffentlicht 2021, handelt es sich um einen Science-Fiction-Roman. Untertitel: „Dystopie-Thriller“. Dieser ist interessanterweise im Deutschland einer nahen Zukunft angesiedelt. Große Sandkriege haben das Land nahezu unbewohnbar gemacht. Die fast ausschließlich in gigantischen unüberschaubaren „Maga-Cities“ lebende Bevölkerung wird durch riesige, hoch automatisierte Plantagen und Farmen versorgt, die sich in der Hand einer religiösen Bruderschaft befinden. Der Großteil der Menschen lebt unter prekären Arbeits- und Lebensbedingungen. Man kann sich gerade so über Wasser halten. Nahrungsmittel sind knapp und werden zugeteilt. Die Straßen der vielfach heruntergekommenen Stadtteile sind gefährlich. Demgegenüber ist das Leben der Oberschicht, besonders der Politik und der religiösen Kaste, geprägt von Überfluss und materieller Sorgenfreiheit. Skrupel- und Empathielosigkeit sind hier an der Tagesordnung. Man hält die Fäden in der Hand und herrscht über die Geschicke der Bevölkerung.
Inmitten dieser Welt schlägt sich die Hauptperson des Romans, die junge Mutter Nalani, als Taxifahrerin durchs Leben. Seit einiger Zeit ist Fergus, ein holografisches Kfz-Notfallprogramm, ihr ständiger Begleiter auf dem Beifahrersitz. Fergus kann seit einem Verkehrsunfall nicht mehr deaktiviert werden und hat, jetzt im Dauerbetrieb, ein ausgesprochen skurriles Eigenleben entwickelt. Sein Wissen über die Menschen bezieht er fast ausschließlich aus einer Vielzahl TV-Sendungen, klassischen Spielfilmen und stillen Beobachtungen seiner Umwelt. Fergus hat sich zu einer altklugen, vorlauten und ständig quasselnden Nervensäge entwickelt, die versucht das menschliche Verhalten zu begreifen. Irgendwie hängt Nalani an ihm und möchte ihn, trotz andauernder Kabbeleien, nicht mehr missen. Als Nalanis Bruder Thomas, der auf einer der riesigen automatisierten Plantagen arbeitet, mit der dort regierenden religiösen Bruderschaft in Konflikt gerät, schalten sich Nalani und Fergus ein. Schnell geraten sie in ein Intrigenspiel der Mächtigen, dass nicht nur sie und ihre Familien in Lebensgefahr bringt.
Eine im Deutschland der nahen Zukunft spielende Dystopie. Diese Ankündigung hatte mich neugierig auf den Roman gemacht. Wie mag das doch eher beschauliche, an Megastädten arme, Deutschland wohl ausgestaltet worden sein? Wie könnte unsere dystopische Zukunft aussehen? Dazu eine SF-Autorin, die bestens mit den speziellen deutschen Verhältnissen vertraut ist. Das klang äußerst vielversprechend.
Der Weltenbau des Romans ist gelungen. An vielen Stellen greift die Autorin auf ein umfangreiches Repertoire bereits bestehender und bekannter SF-Welten und Motive zurück: Scotts „Blade Runner“, Asimovs „I, Robot“ und „Stahlhöhlen“, Bessons „Das fünfte Element“, das P&P „Shadowrun“, Orwells „1984“, usw. Ganz im Zentrum des Romans, finden sich direkte Anleihen bei „The Doctor“, dem legendären Medizinisch-Holographischen Notfallprogramm („MHN“) aus Star Trek Voyager. Fergus, Kris Brynns holografisches Kfz-Notfallprogramm, ist bei aller Ähnlichkeit zum Glück eine völlig eigenständige Version dieses populären Charakters. Äußerst gelungen. Auch wenn seine Suche nach Unabhängigkeit, Freiheit und Menschlichkeit doch sehr den Vorlagen aus Star Trek ähneln, macht es viel Spaß, sich auf die Eigenheiten und Skurrilitäten von Kris Brynns Version einzulassen.
Überhaupt werden die zahlreichen literarischen und filmischen Anleihen in „Born“ geschickt zu einem neuen, eigenständigen Ganzen verbunden. „Born“ verfügt über eine schlüssige, eigene Welt, von der die Leser*innen allerdings immer nur genau so viel erfahren, wie für die Handlung unmittelbar erforderlich ist.
Leider bleibt die interessante Lokalisierung des Romans (Deutschland) ganz auf der Strecke. „Born“ könnte überall auf der Welt spielen. Über ein gelegentliches Fallenlassen deutscher Begriffe, hinaus, setzt sich der Roman mit den lokalen Eigenheiten, nicht weiter auseinander. Hier wurde eine Gelegenheit vergeben.
Die großen Stärken des Romans sind ganz eindeutig die lebendigen, spritzigen und immer wieder auch witzigen Dialoge. Nicht zuletzt dadurch gelingt es Kris Brynn ausnahmslos authentisch, und interessant gezeichnete Charaktere zum Leben zu erwecken. Es wird erzählt, gequatscht, geflucht, gestritten und gewitzelt, dass es eine Freude ist. Gerade die Wortwechsel und Kabbeleien von Nalani und Fergus sind ein Genuss. Sehr gelungen. „Born“ ist ein unterhaltender Roman.
Dieser leichte und lockere Tonfall will allerdings nicht so richtig zu den existenziellen Themen, die in „Born“ den Hintergrund der Handlung bilden, passen. Nicht zu vergessen, „Born“ ist eine Dystopie. Ressourcenknappheit, ökologische Katastrophen, Korruption, Massentierhaltung, Nahrungsmittelknappheit, Planwirtschaft, ethischen Fragen bei KI und Robotik, Machtmissbrauch, industrielle Landwirtschaft und mehr werden thematisiert. Den unterhaltenden Ton empfinde ich in Anbetracht des dystopischen Hintergrunds als nicht ganz stimmig.
Zudem entsteht der Eindruck, dass die zahlreichen lediglich kurz angedeuteten dystopischen Themen vielfach der Staffage dienen. Zu einer vertiefendenden Darstellung der angerissenen Zukunftsprobleme oder gar einer differenzierten Auseinandersetzung kommt es in „Born“ leider nicht. Vielleicht sind es auch einfach nur zu viele. Die Autorin legt den Schwerpunkt des Romans weniger auf das Genre der „Dystopie“, sondern mehr auf das des unterhaltenden „Thrillers“.
Ein Pageturner ist „Born“ aber trotzdem nicht. Zu gemächlich baut sich die Spannung auf. Alles mündet zwar in ein fulminantes Finale, aber so völlig überzeugend ist auch das nicht. Vom Verlag zusätzlich noch mit der Genrebezeichnung „Noir-Thriller“ tituliert, findet sich Roman ein wenig zwischen allen Stühlen wieder. Science-Fiction, Dystopie, Noir, Thriller. So richtig entscheiden kann er sich nicht.
Trotz aller Kritik habe ich den Roman sehr gerne gelesen. „Born“ verfügt über eine interessante, detaillierte und schlüssige SF-Welt, die mit vielfach sympathischen und wunderbar authentischen Charakteren bevölkert ist. Herrliche, lebendige Dialoge und nicht zuletzt auch ein liebenswertes holografisches Kfz-Notfallprogramm namens Fergus, das nicht nur Nalani sondern auch mir ans Herz gewachsen ist. Dazu ist der Roman gekonnt erzählt. Ich fühle mich gut unterhalten.
Kris Brynn, Born
E-Book, Hardcover Ausgabe 344 Seiten
Knauer GmbH & Co. KG, München
OA 2021
ISBN 978-3-426-45923-2