Amor Towles, "Lincoln Highway"
Belletristik

Amor Towles, „Lincoln Highway“

In diesem noch ganz frischen Jahr 2023 habe ich wieder das Vergnügen, gleich mit einer sehr erfreulichen Buchvorstellung beginnen zu können. Der im letzten Sommer erschienene Roman „Lincoln Highway“ des 1964 in Boston/Massachusetts geborenen Bestsellerautors Amor Towles  kann sicherlich zu den bedeutenden Romanen der vergangenen Saison gezählt werden. Er ist in vielen Literaturblogs auf sehr positive Resonanz gestoßen und konnte auch mich überzeugen.

„Wäre es nicht wunderbar, dachte Woolly, wenn das Leben eines jeden Menschen ein Stück in einem Puzzle wäre? Dann wäre das Leben von niemandem im Leben eines anderen eine Unannehmlichkeit. Es würde einfach geschmeidig an seinen vorgesehenen Platz passen und dazu beitragen, das Gesamtbild zu vervollständigen.“

Ein koloriertes Schwarzweißfoto. In glühender Wüstensonne ein schnurgerader amerikanischer Highway, der sich in der Ferne am Horizont verliert. Darauf, ein alter gelblicher Studebaker. Die Insassen nur als Schatten zu erahnen. Der Fahrer scheint wie zum Abschied die Hand aus dem Fenster zu halten. Blaudunkle Wolken ziehen auf.

Das Umschlagsbild von Amor Towles aktuellem Roman hat mich sofort für sich eingenommen. Der „Lincoln Highway“, die legendäre erste Straße die Ost- und Westküste der USA verbindet. 1913 erdachte 5.454 Kilometer quer durch 14 Bundesstaten, vom Times Square in New York bis zum Lincoln Park in San Francisco. Das Gefühl von Weite, Aufbruch und Freiheit, springt mich als Betrachter der Situation geradezu an. Nur selten trifft man auf eine derart stimmige und verheißungsvolle Kombination aus Romantitel und Buchcover.

Landkarte [Foto: Hanser Verlag]

Hält man das Buch in den Händen, stehen sämtliche Signale auf „Roadnovel“ (beim Film würde man sagen „Roadmovie“). Gleich auf den ersten Seiten findet sich eine sehr schön gezeichnete, historisch anmutende Landkarte der USA, die dem Verlauf des Lincoln Highway folgt. Der erste Satz des Romans beginnt, geradezu standesgemäß für eine Roadnovel, mit der Fahrt im Auto. Es ist der 12. Juni, 1954. Der 18jährige Emmet Watson ist mit dem Wagen unterwegs von Salina nach Morgen. Zwei kleine Orte in Nebraska, tief im Heartland der USA.

Aber Emmett Watson sitzt nicht am Steuer des Wagens. Weil er für den Tod eines jungen Mannes verantwortlich ist, hatte er ein Jahr in der Jugendstrafanstalt in Salina verbracht und wird jetzt vom Direktor der Anstalt persönlich nach Hause chauffiert. Das Heim der Familie Watson in Morgen/Nebraska ist jedoch längst verloren. Emmetts Vater ist vor kurzem verstorben, der Hof heruntergewirtschaftet. Emmett, ein kluger und umsichtiger junger Mann, hat sich längst mit der Situation abgefunden und eine Zukunft, zusammen mit seinem acht Jahre alten Bruder Billy, im fernen San Francisco geplant. Dort vermutet er seine Mutter, die die Familie bereits vor vielen Jahren verlassen hat. Ohne Abschied, auf dem Lincoln Highway Richtung Westen.

Die beiden Brüder sind sehr verschieden. Emmett gerät trotz seiner Vernunft gelegentlich in Rage und handelt dann unüberlegt. Der achtjährige Billy dagegen ist intelligent, brav und bedacht. Ein merkwürdig erwachsen wirkender kleiner, freundlicher Junge, dessen liebster Besitz ein Buch über die großen Heldensagen ist: »Professor Abacus Abernathes Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden.« Für Billy nicht bloß ein Buch, sondern Lebensratgeber und Reiseführer.

In der Scheune warten auf die beiden Brüder Emmetts alter Studebaker und 3000 Dollar, die der Vater heimlich für sie auf die Seite gelegt hat. Es fällt ihnen nicht schwer, ihr altes Leben in Nebraska hinter sich zu lassen. Am nächsten Morgen soll es losgehen, auf dem Lincoln Highway immer Richtung Westen, nach Kalifornien.

Aber wie das so ist, wenn man einen Plan hat, plötzlich tauchen Duchess und Woolly auf, zwei Freunde, die Emmett in der Strafanstalt kennengelernt hat. Duchess, ein impulsiver kräftiger junger Mann, mit einem sehr speziellen, gewalttätigen Sinn für Gerechtigkeit und Woolly, ein introvertierter, freundlicher Junge aus einer angesehenen, steinreichen Ostküstendynastie. Beide sind aus der Strafanstalt geflohen und wollen sich den Brüdern auf ihrem Weg nach Westen anschließen. Aber vorher haben sie noch etwas Dringendes genau in entgegengesetzter Richtung in New York an der Ostküste zu erledigen. Heimlich „leihen“ sie sich den Studebaker samt der 3.000 Dollar aus und machen sich nach New York aus dem Staub. Emmett und Billy nehmen als blinde Passagiere in einem Güterzug die Verfolgung auf. Das ist die Ausgangskonstellation eines in vielerlei Hinsicht sehr bemerkenswerten Romans.

„Lincoln Highway“ ist entgegen sämtlichen Vorzeichen keine echte Roadnovel. Emmett und Billy reisen mit dem Güterzug und auch Duchess und Woolly halten sich kaum auf der Straße auf. Aber trotzdem sind alle ständig unterwegs in den Vereinigten Staaten der 50er Jahre. Aufgebrochen in eine ungewisse Zukunft, jeder mit eigenen, ganz unterschiedlichen Voraussetzungen, Plänen und Hoffnungen. In den zehn Tagen des Romans treffen sie auf vielerlei bemerkenswerte, teilweise skurrile Menschen: Sorgenvolle Ordensschwestern, verbrecherische Priester, menschenfreundliche Gelehrte, alte Freunde, Landstreicher, Clowns, Familienmitglieder und einen geheimnisvollen, hilfsbereiten Ulysses. Also doch eine Art „Roadtrip“ und für die Jungen ein großes Abenteuer.

Amor Towles hat seine Protagonisten, trotz aller Unzulänglichkeiten, mit einer großen Portion entwaffnender Menschlichkeit versehen. Es liegt eine leise Melancholie über dem Roman. Die Jungen haben ihren Platz im Leben noch nicht gefunden. Ausgestattet mit einem noch kindlich wirkenden Moral- und Wertesystem versuchen sie in einer ungerechten und harten Welt das Richtige zu tun. Das zentrale Thema der in eine Erwachsenenwelt geworfenen Jungen ist nicht gerade neu, aber in „Lincoln Highway“ sehr gelungen umgesetzt. Es trägt den Roman ganz hervorragend. Überhaupt fühlte ich mich während der Lektüre in diesem Zusammenhang häufiger an J. D. Salingers „Fänger im Roggen“ erinnert.

„Wenn wir jung sind, wird so viel Mühe darauf verwendet, uns beizubringen, dass wir unsere schlechten Charakterzüge im Zaum halten sollen. Unseren Zorn, unseren Neid, unseren Stolz. Aber wenn ich um mich blicke, dann kommt es mir eher so vor, dass viele Menschen in ihrem Leben an einer Tugend scheitern.“

Nichts Geringeres als die großen amerikanischen Mythen, werden in „Lincoln Highway“ so ganz nebenbei auf eine wunderbar leichte und unaufdringliche Art, mit Mythen der Antike und neueren Zeit verbunden und zitiert. Der gescheiterte Roadtrip gen Westen ist hier zu einer klassischen kleinen Heldenreise geworden. Es sind die zehn entscheidenden Tage im Leben der Jungen. Ein kapitelweise von zehn bis eins heruntergezählter Countdown, der unausweichlich einem schicksalhaften Finale entgegenzulaufen scheint.

„Aber in einem nicht benannten Moment beginnen beide Linien, die äußeren Markierungen seiner [des Helden] expandierenden Welt voll mit mutigen Gefährten und Ruhmestaten, sich aufeinander zuzubewegen. Und das Gebiet, das unser Held durchstreift, die Personen, denen er begegnet, sowie seine Zielstrebigkeit, die ihn so lange vorangetrieben hat – all das engt sich ein und richtet sich mehr und mehr auf jenen unausweichlichen Punkt, der sein Schicksal bestimmt.“

Statt ein großes, gesellschaftliches Panorama der 50er Jahre aufzuspannen, hat Amor Towles entschieden, sich ganz auf die Entwicklung seiner Protagonisten zu konzentrieren. Das funktioniert auch sehr gut. Die bedeutenden Themen der Vereinigten Staaten dieser Zeit, Armut, Rassismus, Kriminalität und Ausbeutung, lässt er aber leider relativ unbeachtet am Straßenrand vorbeiziehen. „Lincoln Highway“ gerät dadurch, trotz seiner ganzen Komplexität und großen erzählerischen Qualität, insgesamt etwas zu glatt und zu harmlos. Für mich unverständlich, da der Roman eigentlich sehr realistische Züge trägt und durchaus in der Tradition der großen amerikanischen Erzähler gesehen werden kann. Bei diesem Potential des Romans wurde hier die Gelegenheit verschenkt ein Klassiker zu werden.

Trotzdem bleibt „Lincoln Highway“ von Amor Towles ein wunderbarer, tiefschürfender Roman. Die berührende Geschichte über Aufbruch, Schicksal und das Erwachsenwerden. Keine Roadnovel aber ein Abenteuer. Eine kleine Heldenreise durch die Vereinigten Staaten der 50er Jahre.

Amor Towles, „Lincoln Highway“ [Werbung, weil Rezensionsexemplar]

  • Amor Towles, Lincoln Highway
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • OA: „The Lincoln Highway“, 2021
  • Hardcover, 575 Seiten
  • Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, 2022
  • ISBN 978-3-446-27400-6
  • Preis: 26 €

Interessante Buchvorstellungen  zu dem Roman „Lincoln Highway“ mit etwas anderen Perspektiven sind auf den Literaturblogs Buchhaltung und Kaffeehaussitzer zu finden.

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