Kriminalroman

Chris Whitaker, „Was auf das Ende folgt“

Der in London geborene Autor Christ Whitaker war zehn Jahre lang als Finanztrader tätig, bevor er mit dem Schreiben begann. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Vor zwei Jahren erschien bei PIPER sein internationaler Bestseller-Roman aus dem Jahr 2020 „Von hier bis zum Anfang“, der auch in Deutschland ausgesprochen erfolgreich war. Gut nachvollziehbar, dass der Verlag daraufhin im letzten Sommer direkt nachlegte und nunmehr auch Chris Whitakers schon älteren Debütroman aus dem Jahr 2016 unter dem deutschen Titel „Was auf das Ende folgt“ nachträglich veröffentlichte. Den Romantitel „Was auf das Ende folgt“ empfinde ich allerdings mehr als unglücklich gewählt, worauf ich in den Anmerkungen zu dieser Buchvorstellung zurückkommen werde. Ich möchte nachfolgend zur besseren Orientierung den englischen Originaltitel „Tall Oaks“ („Hohe Eichen“) verwenden.

Eine kalifornische Kleinstadtidylle

Der von alten Eichenwäldern umgebene, fiktive Ort „Tall Oaks“ ist eine typische kalifornische Kleinstadt. Weitestgehend von Kriminalität verschont kennt hier jeder jeden und weiß meist auch bestens über die anderen Einwohner*innen Bescheid. Ein amerikanisch/kleinstädtischer Mikrokosmos. Ein soziales Gefüge, in dem allen Einwohner*innen ihr fester Platz zugewiesen ist.

Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass es in Tall Oaks von schrägen Typen nur so wimmelt?“

Entsprechend ist auch Chris Whitakers Roman „Tall Oaks“ zunächst einmal ein typischer Kleinstadtroman, der bevölkert ist von einer Vielzahl verschiedener, ganz den gängigen Klischees entsprechenden, kleinstädtischer Charaktere. Da sind die alleinerziehende Mutter, die versnobte Millionärsfamilie, der schwule Hochzeitstortenbäcker, die sonderlichen Nerds, die zugezogene arabische Familie, das unglückliche wohlhabende alte Ehepaar, das in den unsympathischen Sportstar der Schule verliebte Mädchen, usw. Die Liste dieser klassischen Stereotype könnte noch um einige Zeilen verlängert werden. Hochzeit, Abschlussball, Dorfläden, nichts wird ausgelassen. Wie es sich für ein Kleinstadtszenario gehört, haben natürlich alle Bewohner*innen auch ihre kleinen, dunklen Geheimnisse, die Stück für Stück ans Tageslicht kommen. Die Grundkonstellation des Romans ist also ausgesprochen konventionell. Umso mehr stellt sich daher die Frage, warum Chris Whitakers Roman dennoch so berührend, spannend und unterhaltend ist?

 

Der Riss im sozialen Gefüge

Dafür verantwortlich sind zunächst einmal die Dramatik und Folgen eines Verbrechens, das ganz im Zentrum der Handlung steht. „Tall Oakes“ ist auch ein Kriminalroman. Der gerade erst dreijährige Junge Harry Monroe wurde unter erschreckenden Umständen aus dem elterlichen Haus entführt, während seine Mutter Jessica im benachbarten Zimmer schlief. Seit diesem düsteren und erschreckenden Ereignis sind erst drei Monate vergangen. Die Entführung bildet eine Zäsur im beschaulichen Kleinstadtleben. Trotz intensiver Ermittlungen der örtlichen und überregionalen Polizei konnte Harry bisher nicht gefunden werden. Das Leben in „Tall Oaks“ ist nicht mehr so wie es war. Die Einwohner versuchen zwar weiterzumachen, aber ein Schatten liegt über der Idylle.

Sie schaute den leeren Haken an und dann die Tafel dahinter. ZU HAUSE IST ES AM SCHÖNSTEN. Früher hatte sie den Spruch gemocht. Vor jener Nacht. Bevor jemand die Farbe aus der Welt genommen hatte.

Das dramatische Verbrechen durchbricht die Klischees des Kleinstadtromans. Die unmittelbar betroffenen Personen, Eltern, Freunde, Verdächtige, und auch der zuständige Sherriff, sind traumatisiert und stehen im Abseits. Ein Riss geht durch das soziale Gefüge und legt den Blick frei auf die Schattenseiten und schweren Verwundungen der so angepassten Einwohner. Es sind die fein ausgearbeiteten verletzten und gebrochenen Figuren, die den Roman so interessant machen und dem überzeichneten, streckenweise auch komischen Kleinstadtleben eine bedrohliche, tiefere Nuance hinzufügen.

 

Der Roman ist gekonnt erzählt

Zudem ist „Tall Oakes“ auch handwerklich versiert und ausgesprochen kurzweilig erzählt. Ohne allzu kompliziert zu werden, wechselt Chris Whitaker auch innerhalb der Kapitel immer wieder geschickt die Erzählperspektive. Obwohl der Roman von immerhin 51 verschiedenen Personen bevölkert wird, funktioniert das ausgesprochen gut. Der Autor hat sein großes Figurentableau souverän im Griff. Die zahlreichen zunächst kleinen, losen Geschichten und Anekdoten, werden im Verlaufe des Romans gekonnt immer weiter zu einem Ganzen zusammengesetzt. Das größere Bild der Kleinstadt und gleichzeitig auch die Hintergründe des Verbrechens, werden immer besser erkennbar. Geradezu ideal für ein „Whodunit“-Szenario. Bis zum Schluss kann über die konkreten Hintergründe des Verschwindens des kleinen Harry ausgiebig spekuliert werden. In Kombination mit den immer wieder geschickt gesetzten Cliffhängern, ist „Tall Oakes“ ein spannender Roman.

 

Was bleibt

Es ist die gelungene Mischung aus bedrohlichem Kriminalroman, skurriler Komödie und relevantem Gesellschaftsroman, die „Tall Oakes“ zu einem aus der Menge herausragenden Kleinstadtroman macht. Ein spannender, lesenswerter Roman, der mich sehr gut unterhalten hat.

Ein kritischer Kommentar zur Buchgestaltung

Leider muss ich eine Portion Wasser in den Wein gießen. Gerade bei Hardcover-Ausgaben spielt für mich die Buchgestaltung eine nicht unerhebliche Rolle. Natürlich weiß ich, dass sich über Geschmack und Farben nicht streiten lässt, trotzdem haben mich Titel und Cover der deutschen Ausgabe von „Tall Oaks“ verärgert.

Es ist doch sicherlich kein Zufall, dass Chris Whitaker „Tall Oaks“ („Hohe Eichen“), ausdrücklich nach dem Schauplatz seines Romans benannt hat. Schließlich beruht die ganze Geschichte ausschließlich auf dem überaus komplexen sozialen Beziehungsgeflecht zwischen den Einwohnern der Kleinstadt, die genau diesen Namen trägt. Zudem haben die wenigen Naturbeschreibungen des Romans ausschließlich die den Ort umgebenen Eichen zum Gegenstand, die darüber hinaus auch mit der Handlung verknüpft sind. – Wie also kommt man auf die Idee, die deutsche Ausgabe mit dem trivialen, pseudotiefsinnigen Titel „Was auf das Ende folgt“ und noch dazu dem Bild einer norddeutsch wirkenden Moorlandschaft zu versehen?!

Ein Blick auf Whitakers zuvor bei Piper erschienenen Roman „Von hier bis zum Anfang“ vermag das Rätsel zu lösen. Titel und Coverdesign von „Tall Oaks“ wurden ohne Rücksicht auf Verluste komplett dem sehr erfolgreichen Bestseller und Vorgängerroman „Von hier bis zum Anfang“ angeglichen. Beide Romane sehen sich zum Verwechseln ähnlich.

Die Auswahl des nichtssagenden Titels und die Gestaltung des Covers sind allein an der Wirkung im Wohnzimmerregal und dem Wiedererkennungseffekt bei der Kaufentscheidung orientiert. Das Werk des Autors hat man dabei einfach über Bord geworfen. Unbestritten, Marketing ist wichtig und Bücher müssen auch ihre Käufer finden, aber hier geht das für meinen Geschmack eindeutig zu weit.

      • Chris Whitaker, Was auf das Ende folgt
      • Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
      • OA: „Tall Oaks“, 2016
      • Hardcover, 396 Seiten
      • Pieper Verlag GmbH, München, 2022
      • ISBN 978-3-492-07152-9
      • Preis: 22 €

 

 

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