Backlist,  Historischer Roman

Dan Simmons, „Terror“

Obwohl ich mich als ein sogenannter „Büchernarr“ bezeichnen würde, ist es für mich immer wieder ein besonderes Ereignis, einen Roman von knapp 1.000 Seiten Stärke zu beginnen. Auch wenn es sich hier ohne Anhänge lediglich um 962 Netto-Seiten handelt, bleibt „Terror“, im wahrsten Sinne des Wortes, ein ganz ordentlicher Brocken Holz. Eine so umfangreiche Lektüre beginne ich nur, wenn ich mir sehr sicher bin, einen wirklich gelungenen Roman vor mir zu haben. „Terror“ von Dan Simmons war so ein Fall. Das Buch war mir auf Twitter ans Herz gelegt worden und ohne diese nachdrückliche Empfehlung, hätte ich eine Lektüre wohl nie in Erwägung gezogen. Doch nach kurzer Recherche zu Autor und Thema war klar, dass „Terror“ einen vielversprechenden Eindruck machte und noch dazu genau in mein Beuteschema passte.

Dan Simmons, geboren 1948 in Illinois, kann als einer der erfolgreichsten und vielseitigsten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart bezeichnet werden. Zu seinen international bekanntesten Werken gehören »Die Hyperion-Gesänge«, »Endymion« und eben auch der bereits 2007 erschiene Roman »Terror«. Es liegt zunächst nahe, dass sich der martialisch klingende Titel auf den Namen eines der beiden Schiffe bezieht, die im Mittelpunkt der großen Geschichte stehen, die hier auf den nahezu 1.000 Seiten ausgebreitet wird. Es ist die Geschichte der letzten Forschungsreise des britischen Polarforschers Sir John Franklin, der im Jahre 1845 mit 129 Mann Besatzung mit den Schiffen HMS Erebus und HMS Terror (dt. „Finsternis“ und „Schrecken“) aufbrach, die berüchtigte Nordwestpassage zu finden. Den kurzen, wirtschaftlich ungeheuer bedeutenden direkten Seeweg von Europa nach Asien. Im Verlaufe der Lektüre wird jedoch immer deutlicher, dass der Titel „Terror“ tatsächlich noch eine weitaus tiefgründigere Bedeutung hat.

Der desaströse Ausgang der Franklin-Expedition ist Legende. Obwohl es sich um die bestausgerüstete Unternehmung ihrer Zeit handelte, scheiterte sie auf ganzer Linie. Beide Schiffe verschwanden im ewigen Eis. Sämtliche 129 Teilnehmer verloren ihr Leben.

 

Der historische Hintergrund

Über den dramatischen historischen Verlauf der Franklin-Expedition ist nur wenig bekannt. Nach einer ersten mehr oder weniger planmäßig verlaufenden Überwinterung 1845/46, gerieten die Erebus und Terror nahe der King-William-Insel in dichtes Packeis, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnten. Die Mannschaften waren gezwungen mit ihren Schiffen einen zweiten, und später auch noch einen dritten Winter gefangen im Eis zu überstehen. Obwohl die großzügige Ausstattung und Bevorratung der Expedition eigentlich auf drei bis fünf Jahre ausgelegt war, wurde die Situation an Bord immer dramatischer. Durch eine später entdeckte Nachrichtenkapsel ist überliefert, dass die Todessrate unter den Expeditionsteilnehmern außergewöhnlich hoch und der Expeditionsleiter Sir John Franklin bereits 1847 ums Leben gekommen war. Die konkreten Gründe für diesen katastrophalen Verlauf sind bis zum heutigen Tage nicht sicher bekannt.

Nach dem dritten Winter im Packeis gaben die Überlebenden Offiziere und Mannschaften die Schiffe auf, um den verzweifelten Versuch zu unternehmen, zu Fuß durch die lebensfeindliche Eiswüste einen 350 Kilometer entfernten Außenposten der Hudson`s Bay Company im Norden Kanadas zu erreichen. Niemand überlebte diesen Marsch. Als Ursache für das Scheitern der Expedition gelten heute fehlerhafte Bleiverlötungen der gerade erfundenen Konservendosen, schleichende Bleivergiftungen, fehlende Schlitten und besonders das Versäumnis, bei verschiedenen Treffen die an die arktischen Verhältnisse bestens angepassten Inuit um Hilfe zu bitten. Vieles ist ungewiss. Viel Raum für eine große Geschichte.

 

Der Mensch ist des Menschen Wolf

Dan Simmons ist es gelungen, rund um diese wenigen bekannten Fakten über den Verlauf der legendären Expedition herum, einen bis zum Schluss fesselnden, ja dramatischen Abenteuerroman zu konstruieren. Sein historischer Roman ist exzellent recherchiert. Zahl und Umfang der im Anhang aufgeführten Quellen sind beeindruckend, sogar eine Liste der Offiziere und Mannschaften nach den Musterungsrollen von 1845 ist aufgeführt. Entsprechend detailliert, präzise und glaubwürdig werden sämtliche Aspekte der Expedition geschildert. Die Leser*innen erfahren alles über den nautischen, militärischen und persönlichen Alltag an Bord. Auch Schilderungen der arktischen See und Strapazen einer Arktis-Expedition sind ungeheuer detailliert und überzeugend. Nach kurzer Zeit stellt sich der Eindruck ein, selbst mit an Bord zu sein.

Dieser Realismus ist an vielen Stellen des Romans allerdings alles andere als erbaulich. Die Verhältnisse an Bord sind aus heutiger Sicht schon zu Beginn der Expedition deprimierend und menschenunwürdig. Für die Mannschaften dieser Zeit ist die Seefahrt ein Leben der Gefahren und Entbehrungen. Später dann, eingeschlossen im Packeis, sind die von Dan Simmons zunehmend drastischer dargestellten Lebensbedingungen an Bord, für die Leser*innen kaum noch zu ertragen. Enge, Gestank, Krankheit, Eiseskälte, Hunger, Angst und allgegenwärtiger Tod bestimmen zuletzt den Alltag. Erschütternd. Nach dem Aufgeben der Schiffe auf dem Weg über das Eis nach Süden, wird alles sogar noch viel schockierender. Verrat, Mord und Kannibalismus machen sich breit. Dieser Roman ist ganz sicher nichts für schwache Nerven.

Dan Simmons versteht es meisterhaft, die Spielarten menschlicher Abgründe mit den überlieferten Fakten zu verbinden. Nicht zufällig finden sich Bezüge auf den Philosophen Thomas Hobbes, dessen Einschätzung „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ treffender nicht sein könnte.

 

Die messerscharfen Zähne der Natur

Obwohl die menschlichen, existenziellen Konflikte allein schon jede Menge Stoff für den Roman bereithalten, geht Dan Simmons noch einen Schritt weiter. Die Gewalt der Natur zeigt ihre Zähne nicht nur in den lebensfeindlichen Temperaturen von teilweise weniger als sechzig Grad Celsius, sondern auch in Form einer mörderischen weißen Monstrosität, die den Männern im Eis auflauert. Ein uraltes Wesen, das den Welten H.P. Lovecrafts entsprungen sein könnte, intelligent zu sein scheint und unaufhaltbar tötet. Simmons setzt es in Beziehung zu der arktischen Mythenwelt der einheimischen Inuit und reichert die immer wieder durchscheinende mystische Ebene des Romans mit expliziten Horrorelementen an. Eine eindrucksvolle Versinnbildlichung des Kampfes der Mannschaften gegen die überlegenden Kräfte der Natur.

Dieses Vorgehen des Autors wurde in der Leserschaft des Romans sehr kontrovers aufgenommen. Ich empfinde es allein schon aus dramaturgischen Gründen als einen genialen Kunstgriff. Dem etwas statisch daherkommenden historischen Stoff, dessen Ausgang ja zudem auch von Beginn an bekannt ist, wird eine neue, überraschende Action- und Spannungskomponente hinzufügt, die die Erwartungen der Leser*innen immer wieder gehörig durcheinanderwirbelt. Zudem verlagert er damit den Schwerpunkt des Romans, weg von einer Dokumentation, mehr in Richtung Thriller. Spannung, Horror, Mystik, was der Geschichte sehr zugutekommt. Dokumentationen bzw. Rekonstruktionen gibt es zu dem Thema schon genug.

 

Europäisch-kolonialistische Überheblichkeit

Der Roman hält aber noch eine weitere Perspektive bereit. Aus heutiger Sicht ist es geradezu erschütternd, mit welcher Hybris die Teilnehmer der Franklin Expedition in die lebensfeindliche Arktis aufbrachen. In typischer europäisch-kolonialistischer Überheblichkeit und Respektlosigkeit gegenüber Natur und Naturvölkern, brechen Franklin, seine Offiziere und Mannschaften in die Arktis auf. Bezeichnenderweise mit zwei umgebauten Kriegsschiffen. Schwerstbeladen mit den Insignien der Macht und des Luxus. Geblendet von dem Glauben an die technische Überlegenheit und geleitet von militärischer, kultureller und religiöser Arroganz, dringen sie in die fremde, nahezu unberührte Welt des ewigen Eises vor. Sie haben keine geeigneten Schlitten, Boote, Kenntnisse über Jagdtechniken und vor allem keinen „Plan B“. Diese typisch europäische Hybris der Epoche, bringt der Expedition letztendlich den Tod. „Erebus“ und „Terror“, „Finsternis“ und „Schrecken“. Die Namen der Schiffe hätten treffender nicht sein können.

Stattdessen demonstrieren die Inuit, dass der Mensch durchaus in der Arktis überleben kann. Perfekt an die Lebensumstände angepasst, hätten die Inuit und ihre Überlebenstechniken die Rettung für die Expedition bedeuten können.

 

Was bleibt

Dan Simmons großartig erzählter Roman „Terror“ ist nichts weniger als ein Meisterwerk. Ein bestens recherchierter historischer Abenteuerroman. Dokumentation und Fiktion werden perfekt miteinander verbunden. Eine große, fesselnde, ja atemberaubende Geschichte, die noch weit über das Ende der Lektüre nachwirkt.

Wer die teilweise drastischen Schilderungen nicht scheut und den 1.000 Seiten schweren Backstein heben kann, wird anspruchsvoll und grandios unterhalten.

Neue Erkenntnisse

Die legendäre Franklin-Expedition fasziniert bis in die heutige Zeit. 2014 (also sieben Jahre nach Erscheinen des Romans) wurde die HMS Erebus, und 2016 dann auch noch die HMS Terror, am Meeresgrund entdeckt. Zumindest letztere in nahezu unversehrtem Zustand. Die Fundorte geben Anlass, zu wieder ganz neue Theorien und Spekulationen. Kehrten Teile der Mannschaft um und versuchten mit der Erebus nach Süden zu segeln? Muss die Geschichte der Expedition neu geschrieben werden? Das Rätsel um das Schicksal der Männer bleibt weiterhin ungelöst.

Nähere Informationen inklusive eines Videos vom Tauchgang zum Wrack der HMS Terror sind in einem Artikel der Online-Ausgabe des britischen „The Guardian“ vom 12.09.2016 zu finden [zum Zeitungsartikel].

Tipps der Leser*innen

Der Roman wurde mir auf Twitter von Daniel Zils empfohlen und ans Herz gelegt, bei dem ich mich an dieser Stelle dafür noch einmal ganz herzlich bedanken möchte.

    • Dan Simmons, Terror
    • Aus dem amerikanischen Englisch von Friedrich Mader
    • OA: „The Terror“, 2007
    • Taschenbuch, 990 Seiten
    • Wilhelm Heyne Verlag, München, 2007
    • ISBN 978-3-453-40613-1
    • Preis: 12,99 €
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2 Comments

  • Petra K.

    Hallo Jörg, durch deine Rezension dieses Romans von der „backlist“ habe ich mich daran erinnert, dass ich ebenfalls sehr begeistert war. Ich habe den Roman direkt nach seinem Erscheinen gelesen und danach noch viele weitere Romane, die sich mit Polar- und anderen Entdeckerexpeditionen beschäftigt haben. Die Hybris, mit der insbesondere die Expeditionsleiter an die jeweiligen Expeditionen herangegangen sind, ist mir dabei auch immer unangenehm aufgefallen. Ich würde diese Einstellung jedoch tatsächlich überwiegend bei den Leitern dieser Expeditionen vermuten, da diese im Falle ihres Erfolges mit Ruhm und Ehre rechnen konnten, wohingegen die Teilnehmer der Expeditionen zumeist völlig unbekannt geblieben sind. Das hat im Jahre 2000 der britische Autor und Journalist Michael Smith jedoch zumindest in einem Fall eindrucksvoll geändert mit seinem Buch „An Unsung Hero: Tom Crean“, (2021 im mareverlag Hamburg in dt. Übersetzung erschienen: „Der stille Held Tom Crean“). In diesem Buch, das sich einer typisierenden Festlegung entzieht, geht es einmal nicht um die „legendären“ Expeditionsleiter, sondern um den Expeditionsteilnehmer Tom Crean, der an drei bedeutenden Expeditionen teilgenommen, diese alle überlebt hat und dann in Vergessenheit geraten ist. – Ein sehr interessanter Perspektiv-Wechsel und eine absolute Lese-Empfehlung!

    • Horatio-Bücher

      Vielen Dank für den tollen Tipp. Das Buch von Michal Smith hatte ich auch schon einmal in der engeren Auswahl, dann aber irgendwie völlig aus den Augen verloren. Ich freue mich sehr über Deinen Hinweis. Das werde ich sicher auch noch lesen. LG Horatio 🙂

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