Dörte Hansen, Zur See
Belletristik,  Gesellschaftsroman

Dörte Hansen, „Zur See“

Wer sich für deutschsprachige Literatur interessiert, stößt derzeit unweigerlich auf den Namen Dörte Hansen. Bereits die ersten beiden Romane der 1964 in Husum geborenen Schriftstellerin, „Altes Land“ (2015) und „Mittagsstunde“ (2018), wurden Bestseller und von der Kritik gelobt, für TV und Kino verfilmt. Im vergangenen September erschien Dörte Hansens dritter Roman „Zur See“, der ebenfalls bereits ein Bestseller geworden ist. Für mich ist „Zur See“ die erste Begegnung mit der Autorin und schon nach wenigen Seiten musste ich mir eingestehen, dass ich schon früher auf Dörte Hansen hätte aufmerksam werden müssen.

Dörte Hansen, „Zur See“ – [Werbung, weil Rezensionsexemplar]

„Zur See“ ist eine Geschichte über gesellschaftlichen Umbruch und den Verlust von Heimat. Im Zentrum des Romans steht die Familie Sander, die seit Generationen auf einer fiktiven Nordseeinsel in einem alten, von einem historischen Zaun aus Walknochen eigefriedeten, Kapitänshaus lebt. Das schönste Hausgrundstück der Insel. Eine Idylle, zumindest auf den ersten Blick. Regelmäßig flattern die Flyer der Immobilienmakler in den Briefkasten: „Wir bewerten Ihre Immobilie!“. Es gibt Kaufangebote in derart schwindelerregender Höhe, dass die gesamte Familie auf einen Schlag dauerhaft versorgt sein könnte. Betrachtet man das malerische alte Gebäude aber aus der Nähe, bemerkt man schnell, dass es veraltet und völlig marode ist. Ein Haus, irgendwie aus der Zeit gefallen, genauso wie die Leben der Menschen, die hier eine Heimat haben.

Hanne Sander hatte in dem Kapitänshaus früh einen Pensionsbetrieb aufgenommen. Ihr Mann Jens war, ganz der Familientradition folgend, Seefahrer geworden und als Kapitän zumeist fernab der Heimat unterwegs. Hanne und die drei Kinder teilten sich Haus, Tisch und die Sommer mit ihren Badegästen. Ein Fulltime-Job ohne Privatsphäre. Mit der Zeit waren aus Badegästen mit Familienanschluss irgendwann jedoch anspruchsvolle Kurzurlauber geworden. Moderne Touristen auf Eventsuche. Menschen in Shorts mit Rucksäcken. Gäste für das moderne Spa-Resort.

„Die Leute kleiden und benehmen sich nicht mehr wie Gäste, und sie werden auch nicht mehr behandelt wie die Gäste früher, wie Verwandte oder gar Freunde. Eher so, als wären sie Nutzvieh.“

Da konnte eine Pension nicht mithalten. Längst hat Hanne Sander den Betrieb aufgegeben. Aber auch ohne Pensionsgäste steckt sie im alten Trott fest und funktioniert weiter wie ein Uhrwerk. Bloß nicht stehenbleiben, bloß nicht nachdenken.

Nachdem der Großvater gestorben war, hatte Ehemann und Kapitän Jens Sander es gewagt die Seefahrt aufzugeben, kam aber nie richtig zu Hause an. Nach kurzer Zeit verließ er die Familie um ein Leben als Vogelwart in der Einsamkeit einer vorgelagerten Sandbank zu führen. Das ist nun auch schon 20 Jahre her. Aber die Veränderungen machen auch vor diesem abgelegenen Ort nicht halt. Immer häufiger besuchen Studenten mit Mobilfunk- und Onlineanbindung die Vogelwarte und stören seine Einsamkeit. Für den Eremiten Jens Sander kaum zu verarbeiten. Ohne Vorankündigung taucht er wieder zu Hause auf.

Genauso wie Jens Sander, war auch sein ältester Sohn Ryckmer, der alten Familientradition gefolgt und als Kapitän zur See gefahren. Doch auch er ist gescheitert. Von einem schweren Unwetter traumatisiert und dem Alkohol verfallen, gab er die Seefahrt auf. Geblieben ist ihm ein kleiner Job als einfacher Decksmann auf der Inselfähre zum Los- und Festmachen der Leinen. Nur noch eine völlig aufgetragene Jacke mit goldenen Ankerknöpfen erinnert an die Tradition seiner Vorfahren.

„Sie hätten anders leben können, er und Hanne. Stattdessen haben sie das Leben ihrer Eltern fortgesetzt, Seefahrer und Seemannsfrau gespielt, die Wut für eine alte Wut gehalten und die Verletzungen für unvermeidlich. Ein Erbe angetreten, das man auch hätte ausschlagen können. Und ihren Ältesten nicht davon abgehalten, diesen Fehler noch einmal zu machen.“

Rykmars Schwester Eske ist wie ein Seemann am ganzen Körper tätowiert und Death Metal Liebhaberin. In der Jugend galt sie als „schwierig“ und begehrte gegen die Honoratioren der Insel auf. Sie hat die Insel verlassen und lebt als Altenpflegern auf dem Festland. Dort muss sie sie am eigenen Leibe miterleben, ja miterleiden, wie die Erzählungen der alten Inselbewohner und mit ihnen auch die alten Dialekte mehr und mehr verstummen. Es ist für sie kaum zu ertragen.

„Sie hält es nicht aus. Das schreckliche Verstummen nach dem letzten Wort, wenn im Seniorenheim noch eine ihrer alten Inselfrauen stirbt, noch einer von den letzten Männern. Ein Choral, der immer leiser und dann irgendwann verklungen sein wird. So muss die Stille sein, wenn große Schiffe sinken oder Kirchen untergehen.“

Nur der jüngste Sohn und Nachzügler Henrik, der nie die Insel verließ, hat sich im Leben irgendwie eingerichtet. Er gilt als Strandkünstler, dessen aus Treibgut zusammengebastelten Kunstwerke und Skulpturen, bei den Touristen vom Festland heiß begehrt sind und hohe Preise erzielen. Er lebt in einfachen Verhältnissen in einer Wellblechbude am Hafen.

Eine nüchterne Melancholie liegt über dem Buch. Nicht zuletzt dafür verantwortlich ist eine auffallende stilistische Besonderheit: Dörte Hansen verzichtet nahezu komplett auf wörtliche Rede. Bis auf wenige, besondere Ausnahmen gibt es in dem Roman keine Dialoge! Erst nach einiger Lesezeit wurde mir dieser außergewöhnliche Umstand so richtig bewusst. Irritiert fing ich an, den Roman wieder auf Anfang zurückzublättern und die Seiten auf der Suche nach wörtlicher Rede zu überfliegen. Fehlanzeige. Obwohl „Zur See“ von einer Vielzahl verschiedener Personen bevölkert wird findet zwischen ihnen keinerlei unmittelbare Kommunikation statt. Stattdessen lässt uns die allwissende Erzählerin nur indirekt, durch den Blick auf die Innenwelten ihrer Protagonist*innen, an deren Handlungen, Motiven, Gedanken und Empfindungen teilhaben. Das ist gewöhnungsbedürftig und geht zu Lasten der Lebendigkeit der Charaktere, die auffallend isoliert und in sich gekehrt agieren. Noch dazu wird die Geschichte im Präsens erzählt. Ebenfalls ungewöhnlich und gewagt. Doch zu meinem großen Erstaunen passt das hier alles überraschend gut zueinander und funktioniert, zumindest bei dem nur 253 Seiten kurzem Buch, ganz hervorragend. Faszinierend und sehr stimmig. Allerdings glaube ich nicht, dass auch ein umfangreicherer Roman von Dörte Hansens eigenwilligen Art des Erzählens getragen werden könnte.

Die Inseln Jütlands, Frieslands und Zeelands befinden sich seit Generationen im gesellschaftlichen Umbruch. Zwar sind die Menschen hier „die Nachkommen von Männern, die das große Frieren noch beherrschten: Grönlandfahrern, die auf Walfangschiffen in die Arktis segelten“, aber tatsächlich sind die Zeiten, in denen die Seefahrt den Lebensmittelpunkt der Inseln ausmachte, lange schon vorbei. Mit den alten Insulanern verschwindet nach und nach auch die Erinnerung an diese Zeit. Längst ist der Tourismus zur Haupterwerbsquelle geworden. In seinen Anfängen gingen Vergangenheit und Zukunft für eine kurze Zeit noch Hand in Hand. Es war die Zeit, in der Touristen noch Besucher waren, Badegäste mit Familienanschluss, die den Kapitänen und Seefahrern mit Respekt und Interesse begegneten. In Zeiten des modernen Massentourismus sind die Seefahrt und ihre Traditionen jedoch zur kitschigen, konsumorientierten Kulisse verkommen. Nur noch ein ganz schlechtes Theater. Und auch die Insulaner selbst, haben sich längst von ihrer Vergangenheit entfremdet. Als ein Wal auf der Insel strandet sind sie ebenso hilf- und ahnungslos wie die Touristen.

„Ein paar Jahrzehnte noch, dann wird all das verschwunden sein. Kein Wellenbrecher wird die Nordseeinseln retten und kein Klimadeich, weil sie nicht für die Ewigkeit gemacht sind. (…) Und falls die See noch länger brauchen sollte, werden die Bustouristen, Kurzurlauber, Kapitänshauskäufer dafür sorgen, dass die Leute von den Inseln untergehen. Ihre Sprache nicht mehr sprechen, ihre Lieder nicht mehr singen, ihre Trachten nur noch für die Gäste tragen und zu Kleindarstellern ihres Lebens werden.“

Keines der Mitglieder der Familie Sander hat es geschafft, sich in der neuen Realität zurecht zu finden. Zu sehr werden ihre Lebensentwürfe dominiert von den Regeln einer längst untergegangenen Zeit. Obwohl sie dies erahnen, scheinen sie gleichzeitig aber irgendwie gelähmt zu sein. Eine zerbrochene Familie. Allein, jede*r ganz für sich, versuchen sie sich in der veränderten Welt zurecht zu finden.

„Zwischenwesen mit einem unstillbaren Heimweh nach dem Meer. Und einer unheilbaren Einsamkeit an Land.“

Der mit sachlicher, unaufgeregter Stimme wunderbar erzählte Roman ist ganz von einem melancholischen (Kultur-) Pessimismus durchdrungen. Mit gekonntem Blick für das Detail, konfrontiert uns Dörte Hansen mit den Realitäten des gesellschaftlichen Wandels, der für viele Menschen immer auch den Verlust von Heimat bedeutet. Aber hat es diese Heimat tatsächlich so gegeben, wie sie erinnert wird? Zum Glück erliegt die Autorin nicht der Versuchung, die Vergangenheit zu verklären oder zu romantisieren. „Zur See“ ist alles andere als ein gefälliger, netter „Inselroman“, und droht die Geschichte doch einmal in Richtung Klischee abzudriften, bricht Dörte Hansen dieses zumeist sofort mit einer messerscharfen Beobachtung, bei der einem der Atem stockt.

„Zur See“ ist ein beeindruckender Roman, der sich sehr intelligent und unprätentiös dem Thema des Verlusts von Heimat widmet. Melancholisch, unkonventionell erzählt und ausgesprochen gelungen.

    • Dörte Hansen, Zur See
    • Hardcover, 253 Seiten
    • Penguin Verlag, München, 2022
    • ISBN 978-3-328-60222-2
    • Preis: 24 €

Eine weitere Buchvorstellung zu dem Roman „Zur See“, die eine etwas andere Perspektive bietet, ist auf dem Literaturblog Buchhaltung zu finden.

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