Biographie,  Gesellschaftsroman

Elfi Conrad, „Schneeflocken wie Feuer“

„Ich war siebzehn, und ich war eine Frau.“

 

Der erste Satz des Romans. Einfach, klar, selbstbewusst. Statement und Leitmotiv.

Der Roman “Schneeflocken wie Feuer” erzählt die Geschichte der siebzehnjährigen Schülerin Dora, die in der Bundesrepublik der frühen 1960er Jahre mit ihrer Familie in einem Kleinstadthinterhaus lebt. Die Flucht aus Schlesien hat die Familie in den immerzu winterlichen Harz verschlagen, und genauso kalt und erstarrt wie die Umwelt, ist dort auch das Leben im Jahr 1962.

An Doras Schule herrscht die damals typische Atmosphäre von Amtsautorität, Disziplin und Gehorsam. Wie überall in der Gesellschaft herrscht in vielen Köpfen noch der Geist von Diktatur und Nationalsozialismus.

 

„Die Lehrer führten uns jeden Tag vor Augen, dass wir keine Ahnung hatten. Dass wir nichts waren! Dass wir es nicht wert waren, auf einem Gymnasium zu sein. … Die Lehrer wussten nichts über Pädagogik, hielten ihren geistlosen Drill und die Verbreitung von Angst für Unterricht. Hatten nicht gelernt, wie man Kindern Spaß am Lernen beibringt. Das, was sie für unsere Dummheit hielten, war ihre Unfähigkeit.“

 

Als Jurist kam mir beim Lesen dieser Zeilen sofort das (früher tatsächlich so bezeichnete) „Besondere Gewaltverhältnis“ in den Sinn, das bis zu einem erlösenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1972, für das Verhältnis von Schule zu Schüler*innen kennzeichnend war. Letztere galten rechtlich als untergeordnet und waren im Verhältnis zur Schule keine Träger*innen von Grundrechten. Kaum zu fassen, aber der Alltag im Jahr 1962.

Die siebzehnjährige Dora begehrt auf. Sie ist sich ihrer weiblichen Reize bewusst und setzte diese sehr gezielt ein, um ihren neunundzwanzigjährigen Musiklehrer Costa zu verführen. Immer stärker und raffinierter umschwärmt sie den jungen Lehrer bis sich zwischen beiden schließlich eine Affäre entwickelt.

 

„Er hatte keine Chance mir zu entkommen.“

 

Neben der, natürlich auch in diesem Fall ganz klar und eindeutig zugewiesenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit des erwachsenen Lehrers, sind die menschlichen und gesellschaftlichen Hintergründe jedoch weitaus komplexer. Bei Doras Avancen an den Lehrer handelt es sich nicht einfach nur um naive Schwärmereien einer Schülerin, einem Klischee, das zudem ganz wunderbar in das damals herrschende Frauenbild gepasst hätte. Nein, neben allen romantischen Aspekten geht es für die Siebzehnjährige um weitaus mehr. Hier kämpft eine junge Frau um Selbstbestimmung. Elfi Conrads Dora ist weder Opfer noch Täterin, sondern ganz einfach eine Frau, die in der von Männern dominierten Enge und Spießigkeit der alten Bundesrepublik als handelndes Subjekt wahr- und ernstgenommen werden will.

 

„Es gab noch etwas, was mich antrieb. Was in meinem Unterbewusstsein lauerte und erst jetzt zutage tritt. … Und vermutlich war es nicht er, der mich auf geradezu unnatürliche Weise anzog, sondern seine Stellung. Er war mein Lehrer. … Und ich wollte Macht. Über ihn, über das System. Wir alle verachteten das System, dem wir ausgeliefert waren. Und wir verachteten die Lehrer.“

 

In dieser Zeit ein unerhörtes und nahezu aussichtsloses Unterfangen. In den 1960er Jahren war die Situation der Frauen immer noch mehr als düster. Zwar hatten sich gerade erst 13 Jahre zuvor, die vier (!) Mütter des Grundgesetzes (es gab noch 61 Väter!) behaupten und den wunderbar klaren Wortlaut des Artikel 3, Absatz 2 Grundgesetzt durchsetzen können: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, im rechtlichen und gesellschaftlichen Alltag hatte dieser Erfolg jedoch noch keine größeren Umwälzungen nach sich gezogen. Immer noch waren die Arbeitsverhältnisse der Ehefrauen durch die Ehemänner kündbar, Kaufverträge oberhalb des alltäglichen Bedarfs nur mit Zustimmung der Ehemänner wirksam, wurden Ehen schuldig geschieden (was für die Frauen oft nicht besonders gut ausging) und an eine Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe noch lange nicht zu denken. Man könnte diese Liste problemlos fortführen. Ich will mich wiederholen: Kaum zu fassen, aber der Alltag im Jahre 1962.

Dementsprechend ist „Schneeflocken wie Feuer“ ein Zeitzeugnis und Portrait der 60er Jahre, das den Blick ganz besonders auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse richtet: Das rechtliche „besondere Gewaltverhältnis“ in den Schulen, die privaten Familien, die in aller Regel ganz dem traditionellen Rollenbild verhaftet waren und von den Ehemännern dominiert wurden, natürlich die dominanten Werte und Normen der Kirchen, die Arzt-Patient*innen-Verhältnisse in den Krankenhäusern, usw. „Schneeflocken wie Feuer“ zeigt einen Teenageralltag, in dem die Jugendlichen ständig mit Autorität und Machtgefällen zu ihren Lasten konfrontiert sind und keinerlei Möglichkeiten haben, sich als Menschen zu entfalten.

In besonders drastischer Form gilt dies für die Frauen. Während sich für junge Männer mit Erreichen der Volljährigkeit zumindest Perspektiven und Möglichkeiten auf ein selbstbestimmtes Leben eröffneten, war das für junge Frauen rechtlich und gesellschaftlich nicht vorgesehen.

 

„Erst Mitte der 1970er Jahre wird man in Westdeutschland mit achtzehn Jahren volljährig. Sollte ich bis dahin verheiratet sein, wird mir das nichts nützen, denn ich werde als Ehefrau kaum Rechte haben und für ein selbstbestimmtes Leben die Erlaubnis meines Ehemannes benötigen.“

 

„Schneeflocken wie Feuer“ ist natürlich ein feministischer Roman. Dora, eine junge Frau voller Energie, Talent und Lebenslust, versucht die gesellschaftlichen Grenzen ihrer patriarchalischen Lebensrealität zu durchbrechen. Sie fordert die Macht heraus. Nicht aus ideologischen oder heldenhaften Motiven, sondern eher unbewusst, ihrem inneren menschlichen Antrieb folgend.

Als Ich-Erzählerin des Romans verfügt Dora über eine klare, unaufgeregte, nüchterne Sprache, durch die ihren engagierten, klugen, geradezu analytischen Betrachtungen eine besondere poetische Nuance hinzufügt wird. Eine ganz außergewöhnliche Stimme.

 

„Ich will nicht, dass er sich hingibt. Will mich nicht hingeben. Aus der Hand geben, weggeben, verlieren. Will auch nicht aufgehen in ihm, wo wären wir dann? Es wäre nichts übrig von mir. Will auch nicht, dass er in mir aufgeht, ich stünde sonst dem Nichts gegenüber. Ich will diese Kraft spüren, die von ihm ausgeht. Die zusammen mit meiner etwas neues gebiert.“

 

Für Teenager*innen wäre Doras hohes Maß an Abgeklärtheit und Reflexionsvermögen sicherlich recht ungewöhnlich. Geschickt umgeht Elfi Conrad dieses Problem, indem sie Dora ihre Geschichte nicht als siebzehnjährige Schülerin, sondern aus der Perspektive der Dora unserer Gegenwart erzählen lässt. Die Dora der Gegenwart trifft ganze sechzig Jahre nach den Ereignissen des Jahres 1962 bei einem Klassentreffen im Harz wieder auf ihre Schulkameraden und -kameradinnen. Jetzt, knapp achtzigjährig, erzählt sie ihre Geschichte vollständig aus der Retrospektive. Das ermöglicht es der Ich-Erzählerin, nach Belieben zwischen dem Erfahrungshorizont der Siebzehnjährigen und der knapp Achtzigjährigen zu wechseln, und auf diese Weise die Erlebnisse wunderbar klug einzuordnen und zu bewerten.

 

„Aber es werden noch beinahe zwanzig Jahre vergehen, bis der alte Muff und der preußische Drill, der teilweise auch außerhalb Deutschlands herrscht, hinweggefegt werden. 1962, als das Buch über Pippi schon dreizehn Jahre alt ist und ein gutes Vorbild für meine kleine Schwester abgegeben hätte, kennen meine Eltern und ich es nicht.“

 

„Schneeflocken wie Feuer“ ist ein autobiografischer Roman, genauer gesagt ein autofiktionaler, der stark von der Lebensgeschichte der Autorin inspiriert ist. Elfi Conrad ist Jahrgang 1944 und wie ihre Protagonistin im Harz aufgewachsen. Später verschlug es sie nach Karlsruhe, wo sie an Schulen und der Pädagogischen Hochschule lehrte und noch heute lebt. Ihrer Homepage ist zu entnehmen, dass sie auch über diese Eckdaten hinaus vieles mit ihrer Ich-Erzählerin verbindet. Neben Schwarzweißfotografien, die die siebzehnjährige Autorin in den Posen der Dora des Romans zeigen, erfährt man dort, dass auch das Coverfoto des Buchs aus ihrem privaten Besitz stammt. Das schwarzweiße Foto zeigt Elfi Conrad selbst, als siebzehnjährige junge Frau in einer 60er Jahre Umgebung. Ihr Blick ist melancholisch-entrückt, scheinbar ins Leere gerichtet. Nach vorn gebeugt, etwas verkrampft sitzend. Im Hintergrund, schemenhaft, ein Mann in schwarzem Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte. Der Mann sitzt in entspannter, ausgestreckter Pose. Nach eigenen Angaben ein Partyschnappschuss. Besser können Coverfoto und Roman kaum korrespondieren. Absolut gelungen.

Wie für einen autofiktionalen Roman üblich, weiß man bei Doras, bzw. Elfi Conrads Geschichte nie, wo die Autobiografie endet, und die Fiktion beginnt. Genau diese unscharfe Grenze zwischen Roman und Autobiografie regt zu Spekulationen an und verschafft der Geschichte gleichzeitig eine ganz besondere Authentizität. Im Falle von „Schneeflocken wie Feuer“ wirkt das ausgesprochen stimmig und angemessen.

Ich denke, längst ist klar, Elfi Conrads Roman hat mich begeistert. Ihre klare, sachliche, aber gleichzeitig auch poetische Stimme und ganz besonders ihre rationale, mutige, empfindsame Offenheit, konnten mich nachhaltig beeindrucken. 

„Schneeflocken wie Feuer“ ist so vieles in einem und in allem ganz wunderbar gelungen. Authentisches Zeitzeugnis, feministisches Statement, beeindruckende Autobiografie und berührende Geschichte. Großartig.

 

  • Elfi Conrad, Schneeflocken wie Feuer
  • Hardcover, 294 Seiten
  • mikrotext, Berlin, 2023
  • ISBN 978-3-948631-33-8
  • Preis: 26 €

30.11.2023

Der Roman „Schneeflocken wie Feuer“ ist mein Roman des Jahres 2023.

01.12.2023

Unter der Kategorie „10 Fragen an…“ hatte ich die Möglichkeit, mit Elfi Conrad ein ausführliches und sehr persönliches Interview zu führen.

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2 Comments

  • Petra K.

    Hallo Jörg,
    vielen Dank für diese wunderbare Lese-Empfehlung. In meiner Buchhandlung habe ich das Buch schon gesehen, konnte mich bislang jedoch noch nicht so recht zum Kauf entscheiden. Dank deiner begeisterten Rezension hat sich das jetzt geändert. Die Herbstferien stehen zwar noch nicht direkt vor der Tür, zeichnen sich jedoch schon mit einem Silberstreif am Horizont ab. „Schneeflocken wie Feuer“ ist auf jeden Fall in meinem Reisegepäck.

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