Jonathan Franzen „Crossroads“
Jonathan Franzen, der auch als Meister des Familienromans gehandelt wird, hat wieder einen großen seitenstarken Roman über die dysfunktionale amerikanische Durchschnittsfamilie geschrieben. Nach seinen sehr erfolgreichen Romanen „Die Korrekturen“ und „Freiheit“, die sich um die Lebensmodelle und den Liberalismus der weißen Mittelschicht drehten, richtet er jetzt, mit seinem neuen Roman „Crossroads“, den Blick zurück in die Vergangenheit auf die Situation in Amerikas Vorstädten in Zeiten der Aufbruchsstimmung Anfang der 1970er Jahre.
Nach eigenem Bekunden handelt es sich bei dem in deutscher Übersetzung immerhin 826 Seiten starken und von der Kritik fast ausnahmslos gefeierten „Crossroads“ um den Auftakt einer Trilogie, mit dem nicht ganz unbescheidenen Subtitel „A key to All Mytologies“. Wir dürfen gespannt sein.
„Crossroads“ bedeutet grundsätzlich „Kreuzung“, kann hier aber auch als „Scheideweg“ verstanden werden. So stand die amerikanische Nation in den 1960er und 70er Jahren in mehrfacher Hinsicht an einem Scheideweg. Die Themen: Rassentrennung, Vietnamkrieg, Drogenkonsum, Situation der indigenen Völker, Studentenbewegung und Generationenkonflikt beherrschten die Tagesordnung und kündeten von bevorstehenden gravierenden gesellschaftlichen und politischen Richtungsentscheidungen.
Vor diesem historischen Hintergrund siedelt Franzen die protestantische weiße Pastorenfamilie Hildebrandt, die den Mittelpunkt des Romans bildet, anfangs der 1970er Jahre in New Prospect, einem „weißen“ Vorort der Stadt Chicago an. Und wie das Land, stehen auch sämtliche Mitglieder der Familie mit zahlreichen großen oder auch kleineren Lebenskrisen selbst an einem Scheideweg.
Der spießige, sozial und politisch hoch engagierte evangelische Gemeindepfarrer Russ Hildebrandt, steckt in der Midlifecrises. Er hat sich von seiner Frau Marion entfremdet und sucht sein Glück völlig unchristlich in eine Affäre, ausgerechnet mit einer jungen Witwe aus seiner eigenen Gemeinde. Als wäre das nicht genug, ist er von Wut und Neid auf seinen jüngeren Kollegen zerfressen, der bei den jugendlichen Gemeindemitgliedern besser ankommt als er selbst. Ehefrau Marion, fühlt sich unattraktiv und leidet an ihrer Rolle, durch die sie auf die „Frau des Gemeindepfarrers“ reduziert wird. Sie ist zudem stark traumatisiert von lange verdrängten Missbrauchserfahrungen die wieder an die Oberfläche drängen und sie in eine psychische Krisensituation fallen lassen. Der älteste pazifistisch eingestellte Sohn Clem, eigentlich vom Kriegsdienst zurückgestellt, wird von seinem Gewissen geplagt und bricht schließlich sein Studium ab, um sich freiwillig zum Einsatz in Vietnam zu melden. Die 17 jährige Tochter Becky, ehemals beliebte Cheerleaderin, beginnt nach einem Erleuchtungserlebnis ihren Halt im Glauben zu suchen und der hochintelligente, berechnende jüngere Sohn Perry verfällt den Drogen.
Alle Mitglieder der Familie sind zudem eng mit einer Jugendgruppe der Kirchengemeinde verbunden, die bezeichnenderweise „Crossroads“ genannt wird. In der Gruppe herrscht eine krude Mischung religiöser, spiritueller und therapeutischer Praktiken vor, die sich auf das auffällige Kommunikationsverhalten in der Familie Hildebrandt wie ein Katalysator auswirkt.
In Zeiten fundamentaler Umbrüche und innerfamiliärer Konflikte gelingt es der Familie Hildebrandt nämlich nicht sich von den vorherrschenden Idealen eines angepassten, spießig-frommen Vorstadtlebens zu lösen. Geradezu zwanghaft versuchen alle Familienmitglieder beharrlich, innerfamiliäre Konflikte und auch ihr Verhalten gegenüber Freunden und Mitmenschen, an religiösen und moralischen Kriterien auszurichten. Dieses ständige Bedürfnis, moralisch richtig zu handeln, führt alle Beteiligten jedoch nur in ein kaum mehr zu entwirrendes Geflecht von Frustration, Lügen, Wut, Schuld und Scham. Alle befinden sich andauernd in einem Zustand der Selbstreflexion und sind ständig bemüht altruistisch und gut zu sein und immer das Richtige zu tun.
„Also, meine Frage ist wohl“, sagte er, „ob gute Werke wirklich um ihrer selbst willen getan werden können oder ob sie, bewusst oder unbewusst, immer einem persönlichen Zweck dienen?“
Diese inneren Kämpfe, an denen die Beteiligten schlussendlich als Familie scheitern und die dadurch aufgeworfenen großen Fragestellungen machen den Roman besonders interessant. Franzen versteht es meisterlich, das äußerst diffizile und reichhaltige Innenleben seiner Figuren, erzählerisch auszubreiten. Geschickt wechselt er dabei von Kapitel zu Kapitel die Erzählperspektiven. Jedes Kapitel, wird aus der Sicht einer anderen Person erzählt, wobei sich einzelne Geschehnisse teilweise auch überschneiden.
„Crossroads“ steht dabei in der Tradition der erzählenden Romane des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte wird wunderbar unaufgeregt und gekonnt ausgebreitet. Alle Figuren sind detailliert und liebevoll ausgearbeitet und auch die realistischen Dialoge sind überzeugend.
Franzens erzählerischen Qualitäten sind hinlänglich bekannt, jedoch hat er es für mich bei „Crossroads“ etwas übertrieben. In einigen Kapiteln entfernt er sich doch sehr weit vom Plot oder kreist an anderen Stellen etwas lange um eine beabsichtigte Aussage herum. Der Roman ist zwar immer kurzweilig und bis zum Schluss möchte man wissen, wie es mit der Familie Hildebrandt weitergeht, aber ein wenig Straffung hätte dem Roman gut getan.
Insgesamt ist „Crossroads“ ein großer, wunderbar erzählter Familienroman und ein gelungenes Panorama der amerikanischen Mittelschicht der 1970er Jahre. Das vortrefflich geschilderte Innenleben der Figuren und deren Auseinandersetzung mit ihren großen moralischen Ansprüchen ist sehr gelungen. Trotz einiger Längen sicherlich ein sehr guter, wichtiger Roman, den ich empfehlen möchte.
Jonathan Franzen, Crossroads
Hardcover, 826 S.
Rohwolt Verlag
ISBN 978-3-498-02008-8