Patrìcia Melo, „Der Nachbar“
„Ich habe weder das absolute Gehör mancher Musiker, noch sind meine Ohren so sensibel wie die von Hunden. Aber ich habe nie begriffen, warum Lärm nicht zu den wirkungsvollen Stichwaffen gezählt wird.“
Mit dem ersten Satz setzt der Ich-Erzähler gleich die Tonlage in Patrìcia Melos rabenschwarzen kleinen Roman „Der Nachbar“. Es sind die Gedanken eines ganz und gar durchschnittlichen, Biologielehrers, Vaters und Ehemanns aus der brasilianischen gesellschaftlichen Mittelschicht, die hier seltsam aggressiv klingend bereits zu Beginn des Buchs aufhorchen lassen.
Patrìcia Melos desillusionierter Ich -Erzähler lebt zusammen mit seiner Frau Marta in der bescheidenen Wohnung eines einfachen Mehrfamilienhauses in Sao Paulo. Sein Job als Lehrer ist mehr als unbefriedigend. Von Kollegen und Schülern respektlos behandelt, lebt er in ständiger Angst vor seinen gewalttätigen und kriminellen Schülern. Das Gehalt ist schlecht und wegen der miserablen Zustände an den öffentlichen Schulen befindet er sich sowieso regelmäßig im Streik. Seine Ehe mit der erschöpften Krankenschwester Marta ist zudem in einer Krise. Schon lange habe beide sich nichts mehr zu sagen und gehen ihre eigenen Wege. Auch die finanziellen Verhältnisse der Familie geben Anlass zur Sorge. Eine graue Realität ohne Kontrolle, Respekt und Perspektiven. Es hat sich einiges angestaut.
„Ich bin nicht der Typ, der Streit sucht. Ich vermerke alles in meinem geistigen Notizheft. Dort führe ich meine schwarze Buchhaltung. Mangelnde Zuneigung, Grobheiten, versagte Gefallen oder abgeschlagene Bitten, all das wird sorgfältig registriert. Die Quittung kommt am Tag X.“
Zum Glück gibt es da aber noch den über ihm wohnenden Nachbarn Ygor, der die ganze Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers in Anspruch nimmt. Es scheint völlig klar, dieser Ygor hat es auf ihn abgesehen. Voller Selbstbewusstsein und mit sich im Reinen, trampelt Ygor auf seinen Nerven herum. Das kann doch nur Absicht sein und aus Bösartigkeit geschehen. Zu allen Tages- und Nachtzeiten lautes Klacken harter Absätze, Türenknallen, Kopulationsgeschrei, wummernde Musik, Stimmen und vieles mehr bei völlig fehlender Einsicht in die Schwere des Vergehens. Absolute Provokation, Demütigung und Herausforderung. Die Gedanken unseres Ich-Erzählers drehen sich nur noch um den oben wohnenden Nachbarn und die Möglichkeiten es ihm heimzuzahlen.
„Tatsächlich ist Hass ein Zeitvertreib wie jeder andere. Und angesichts eines gewöhnlichen Lebens ohne Höhepunkte gewährleistet uns ein wohlgenährter Hass zumindest große Gefühle. Ich für meinen Teil finde, hassen ist besser als gar nichts zu empfinden.“
Der Ich-Erzähler wird von einem Strudel des Hasses, der Wut und Gewaltphantasien verschlungen. Genüsslich schmiedet er düsterste Rache- und Mordpläne, nur um diese erschrocken wieder zu verwerfen. Seine Obsessionen scheinen immer mehr der einzige verlässliche Halt zu sein, in einem Leben, das schon längst aus dem Gleichgewicht geraten ist. Langsam beginnt er seine dunklen Phantasien in die Tat umzusetzen und geht zum Gegenangriff über.
„Damit begann ich, den Mord von Senhor Ypsilon zu entwerfen. So weit, mir den logistischen Teil des Verbrechens vorzustellen, ging ich natürlich nicht, es war einfach nur ein Tagtraum, wie wenn man den Fernseher anstellt und sich einen guten Krimi anschaut, und das befriedigte mich zutiefst.“
Die Sache gerät außer Kontrolle und plötzlich liegt der Nachbar Ygor zum großen Entsetzen des Ich-Erzählers tot in seiner Badewanne. Es folgen Untersuchungshaft und ein ausgewachsener Mordprozess.
Patrìcia Melo (*1962 in Assis/Brasilien) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Sie sieht ihr Schreiben als eine Art des Widerstands: „Brasilien braucht eine bessere Zukunft.“ Die politische Autorin war im Wahlkampf von Bolsonaros Gegner Fernando Haddad tätig. Melo wurde u.a. mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur „führenden Schriftstellerin des Millenniums“ in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.
Den kleinen Roman „Der Nachbar“ kann man als Essenz ihres Schaffens bezeichnen. Die rabenschwarze Kriminalgeschichte läuft vor dem Hintergrund des Zerfalls der kleinbürgerlichen brasilianischen Gesellschaft ab. Die staatlichen Institutionen zerfallen und die Kriminalität ist außer Kontrolle. Perspektivlosigkeit macht sich breit und destabilisiert die Familien. Viel Raum für ein kleines, bösartiges und herrlich makabres nachbarliches Szenario. Es entbehrt nicht einer gewissen tragischen Komik, dass in dieser Gesellschaft ein geordnetes, sinnvolles Leben erst im Gefängnis zu gelingen scheint.
Genüsslich und herrlich bösartig schildert Patrìcia Melo, wie sich der Ich-Erzähler immer weiter auf den Lärm seines Nachbarn fokussiert und dem Hass freien Lauf gibt. Seine inneren Tiraden voller unbeholfener Rachepläne, Kapriolen und Mordphantasien muten dabei skurril-komisch an. Durch die Ich-Perspektive sind die Leser/-innen ganz dicht dran und können sich an dem wachsenden Furor erfreuen. Manches Lachen bleibt einem jedoch im Halse stecken.
Patrìcia Melos „Der Nachbar“ ist ein bitterböser, urkomischer und genüsslich erzählter Kriminalroman. Eine sarkastische, rabenschwarze Abrechnung mit der heutigen städtischen Gesellschaft und deren kleinbürgerlichen Lebensentwürfen. Ein äußerst unkonventioneller, gelungener Roman.
Patrìcia Melo, Der Nachbar
Übersetzung von Barbara Mesquita
Taschenbuch, 159 Seiten
Unionsverlag, Zürich
Originalausgabe 2017, Deutsche Erstausgabe 2018
ISBN 978-3-293-20929-9