Emma Stonex, „Die Leuchtturmwärter“
Die Sylvesternacht des Jahres 1972. Auf einem Felsen weit draußen vor der Küste Cornwalls, trotzt ein einsamer Leuchtturm der tosenden Nordsee. Am darauffolgenden Morgen sind die drei Leuchtturmwärter spurlos verschwunden. Der zum Abendessen gedeckte Tisch ist unberührt und die schwere Außentür von innen verschlossen. Beide Uhren des Turms sind stehen geblieben und zeigen dieselbe Uhrzeit an.
Der fiktionale Roman „Die Leuchtturmwärter“ von Emma Stonex (*1983 in Northamptionshire / England) ist inspiriert von einer wahren Begebenheit, die sich vor mehr als 120 Jahren ereignete und zu einer mythischen Volkssage wurde. Im Dezember des Jahres 1900 verschwanden drei Wärter unter mysteriösen Umständen von einem Leuchtturm auf der unbewohnten Insel Eilean Mòr in den Äußeren Hybriden. Ein Vorfall, der nie aufgeklärt werden konnte. Schon immer von Leuchttürmen fasziniert, nahm die Autorin dieses Ereignis zum Anlass für ihren ersten Roman unter eigenem Namen. Emma Stonex war bisher jahrelang als Lektorin tätig und veröffentlichte bereits einige Bücher unter Pseudonym.
An dieser Stelle möchte ich zunächst die liebevolle Gestaltung der mir vorliegenden Hardcover-Ausgabe hervorheben. Auf dem Umschlag ist ein strahlender, von Brandung umtoster Leuchtturm abgebildet. Auch die Vorsätze im Einband weisen ein ähnliches Brandungsmotiv auf. Beide Szenen sind ganz in blau/weiß bzw. weiß/blau gehalten und in der Ausführung dem im Nordseeraum verbreiteten traditionellen Indigo-Blaudruck-Handwerk nachempfunden. Die Gestaltung bekommt dadurch einen engen Bezug zum Inhalt des Buchs und wirkt wunderbar harmonisch. Ein wahrlich gelungener Anfang.
Das Geheimnis um das Verschwinden der drei Männer in der Silvesternacht 1972 bildet allerdings nur vordergründig den Gegenstand des Romans. Im eigentlichen Mittelpunkt stehen die Themen Isolation, Einsamkeit und Schuld, sowie die zwischen den Beteiligten vorherrschende allgegenwärtige Sprachlosigkeit.
Die Leuchtturmwärter Arthur Black, Bill Walker und Vincent Bourne bilden eine eingeschworene Gemeinschaft inmitten ihres einsamen und von der der Brandung umtosten Turms. Völlig von der Außenwelt abgeschnitten, in nicht endend scheinender Wiederholung, gehen sie den wenigen täglichen Pflichten ihres eintönigen Dienstes nach. Eines besitzen sie im Überfluss, und das ist Zeit. Doch statt sich untereinander näher zu kommen und kennenzulernen, herrscht zwischen ihnen eine große Distanz. Über das dienstliche hinaus, bleiben sie sich auffallend fremd. Jeder bleibt mit sich und seinen Gedanken allein. Schon bald zeigt sich, dass tiefe Verwundungen und Traumata in ihnen schlummern. Nach außen charakterlich gefestigt und scheinbar gut an das Leben in der Einsamkeit angepasst, kämpfen die Männer mit ihren inneren Dämonen. In der langen, auf engsten Raum beschränkten Isolation eines einsamen Leuchtturms, eine tückische Konstellation.
Zur selben Zeit befinden sich die Ehefrauen der Männer üblicherweise zu Hause an Land. Der Turm ist von der Küste zwar gerade noch erkennbar, doch ein Kontakt bis zur Rückkehr der Männer nicht möglich. Auch die Frauen sind während der langen Dienstzeiten mit sich und ihren Alltagsverpflichtungen allein. Auch sie pflegen untereinander keinen oder nur oberflächlichen Kontakt. Auch hier herrschen überall Einsamkeit und Sprachlosigkeit.
Umso sprachgewaltiger kommt der Roman daher. Wunderbar unaufgeregt, mit großer Ernsthaftigkeit und Sensibilität spürt Emma Stonex den Gedanken und Gefühlen ihrer Protagonisten/-innen nach und lässt uns in ihre Seelen blicken. Ohne jede Sensationshascherei treten dabei Stück für Stück deren Ängste und Verwundungen zutage. Alles vor dem Hintergrund der rauen, von Wellen und Stürmen umtosten einsamen und gefährlichen Nordseeküste. Wind und Salzwasser sind während der Lektüre förmlich auf der Haut zu spüren.
Der Roman ist geschickt konstruiert. Die beiden wesentlichen Handlungsebenen spielen im Jahr 1972, dem Jahr des Verschwindens der Männer, sowie 20 Jahre später im Jahr 1992. Noch immer werden die Frauen von den Geistern der Vergangenheit nicht losgelassen. Die Wunden der Silvesternacht 1972 konnten nie geschlossen werden. Trotz der lähmenden Ungewissheit versuchen sie weiter ihren Alltag zu bewältigen. Da taucht ein unter Pseudonym arbeitender Autor maritimer Abenteurerromane auf, der sich für die tatsächlichen Ereignisse interessiert und endlich Licht in die damaligen Geschehnisse bringen will. Die Frauen, die schon immer an der „offiziellen Version“ der Betreiberfirma gezweifelt haben, werfen ihre Bedenken über Bord und lassen interviewen.
Raffiniert wechselt die Erzählperspektive kapitelweise zwischen den Männern und Frauen, sowie den Jahren 1972 und 1992 hin und her. Behutsam, gleich eines Mosaiks, setzt sich so ein Bild der damaligen Ereignisse im Turm zusammen. Doch ist den Aussagen und Wahrnehmungen der Beteiligten nicht immer zu trauen. Die Wahrheit kann sehr subjektiv sein und auch in Form von Lebenslügen daherkommen. Nicht zuletzt die Wahrnehmungen der Männer auf dem Leuchtturm sind überschattet von Melancholie, Einsamkeit, Depression und Wahn. Stonex verzichtet weitgehend auf eine objektive Perspektive. Erinnerung und Illusion verschwimmen.
Das große Geheimnis um das Verschwinden der Leuchtturmwärter wird am Ende des Romans tatsächlich aufgelöst. Im Hinblick auf das, dem klassischen Kriminalroman entlehnte „Verschlossener-Raum-Rätsel“ ist dies gewiss eine nachvollziehbare Entscheidung der Autorin, stellt aber in diesem wunderbaren mystischen, in weiten Teilen traumhaft anmutenden Roman leider einen störenden Fremdkörper dar. Die Geschichte lebt von den Andeutungen, den Geheimnissen und der Ungewissheit. Einer Aufklärung hätte es da nicht bedurft.
„Die Leuchtturmwärter“ ist ein wunderbar schwebender, der Welt entrückter Roman über die Einsamkeit, Sprachlosigkeit und Verletzbarkeit des Menschen vor dem eindrucksvollen Hintergrund der rauen, gefahrvollen See. Sprachgewaltig, einfühlsam, meisterlich geschrieben.
Ich konnte den Roman bis zum Ende kaum zur Seite legen.
- Emma Stonex, Die Leuchtturmwärter
- Aus dem Englischen von Eva Kemper
- OA: „The Lamplighters“, 2021
- Hardcover, 431 Seiten
- S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. , 2021
- ISBN 978-3-10-397037-1
- Preis: 22 €
2 Comments
Petra K.
Hallo Jörg,
gerade erst habe ich deinen wunderbaren Blog entdeckt und festgestellt, dass sich auf deiner Büchertapete viele Titel befinden, die ich auch in der letzten Zeit gelesen habe. Da musste ich einfach zu einem Titel einen Kommentar hinterlassen.
„Die Leuchtturmwärter“ haben mich auch absolut überzeugt. Eine spannende, mit viel Empatie und psychologischem Geschick geschriebene Geschichte, die ich zunächst (Titel, Cover) in etwas seichteren Gefilden verortet hätte. Nach der Lektüre war ich jedoch absolut überzeugt und fand den Titel und das Cover sogar sehr passend. Ich habe die Ausgabe der Büchergilde Gutenberg gelesen, die sich jedoch nur durch eine andere Farbe beim Cover von der Originalausgabe unterscheidet. Mich hat vor allen Dingen überrascht, wie dicht und professionell die Autorin die Geschichte erzählt. Für ein Debüt absolut bemerkenswert, wie ich finde.
Horatio-Bücher
Vielen Dank für Deine Rückmeldung. Mir ging es bei dem Cover zunächst ganz genauso. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich selbst lasse mich durch die Titelbildgestaltung immer sehr beeinflussen. Da ist es oft hilfreich, schon einmal etwas von dem Buch gehört zu haben. LG Horatio 🙂