Belletristik

Patrick Modiano, „Unterwegs nach Chevreuse“

Erinnerung, Vergessen, Identität und Schuld, wurden vom Nobelkomitee als die großen Themen im Werk des Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano genannt. In seinen Romanen begibt er sich immer wieder auf die Suche, nach Fragmenten der eigenen Vergangenheit. So dreht sich auch sein neuer Roman „Unterwegs nach Chevreuse“ ganz um das Verrinnen der Zeit und das Verblassen von Erinnerungen. Eine Art Schlüssel zum Verständnis seines Werks.

Gleich mit dem ersten Satz wird in zweifacher Hinsicht klargestellt, wohin die Reise gehen soll:

„Bosman hatte sich erinnert, dass ein Wort, Chevreuse, in der Unterhaltung immer wiederkehrte.“

 „Chevreuse“ wird genannt. Eine kleine ländliche Gemeinde etwas südlich von Paris, die im Zentrum dieses geheimnisvollen Romans, der ganz aus den Erinnerungsfragmenten des Protagonisten Jean Bosmans zusammengesetzt ist, stehen soll. Und gleichzeitig stolpert man, keinesfalls zufällig, über das Plusquamperfekt. Größte Aufmerksamkeit ist gefordert. Schon der Einstieg in den Roman ist ein Statement. Vorvergangenheit, also die vollendete Vergangenheit. Zeit und Raum werden miteinander verwoben.

Und genauso kommt es dann auch. „Unterwegs nach Chevreuse“ wird durch die Erinnerungen des gealterten Protagonisten Jean Bosmans erzählt. Fragmente seiner Kindheit, seiner Zeit als 20-jähriger Erwachsener Mitte der 60er Jahre und seiner Gegenwart um 2015, wechseln einander ab und nicht immer ist klar, an welcher Stelle seiner Erinnerungen sich die Lesenden gerade befinden. Zugleich dreht sich alles um eine Reihe von Geschehnissen um das Haus in der Rue du Docteuer-Kurzenne in Chevreuse. Hier hatte Bosmans seine Kinderzeit verbracht und hierhin war er 15 Jahre später als junger Erwachsener noch einmal zurückgekehrt.

„Sein Philosophielehrer hatte ihm einst erklärt, dass die verschiedenen Abschnitte eines Lebens – Kindheit, Jugend, reifes Alter, Greisentum – auch mehreren aufeinanderfolgenden Toden entsprechen. Dasselbe galt für die Erinnerungssplitter, die er so rasch wie möglich aufzuschreiben versuchte: Bilder aus einem Abschnitt seines Lebens, die er im Zeitraffer vorüberziehen sah.“

Auch wenn ich sogenanntes „Namedropping“ in Rezensionen immer ärgerlich finde, komme ich an dieser Stelle nicht umhin, den Namen Marcel Proust ins Spiel zu bringen. Natürlich ist man bei Modianos Themen Zeit, Vergänglichkeit und Erinnerung, sofort an „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erinnert. Und tatsächlich weisen einige Passagen, und auch die Tonlage des Erzählers, deutliche Parallelen und Anspielungen auf. Auch die Schilderungen der Landschaft des Chevreusetals erinnern an Proust.

„Sie verließ den Raum, und er blieb allein in dem stillen, sonnendurchfluteten Salon. Das Fenster stand halboffen, und die Blätter der Kastanie schaukelten sanft. Den Blick auf diese Blätter geheftet, ließ er sich von ihnen wiegen. Fünfzig Jahre später erinnerte er sich an diesen Moment, als die Zeit stillstand. Er erinnerte sich auch an dieses Frühlingslicht, in dem er schwebte und wo fortan nichts mehr von Bedeutung war.“

Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Proust-Ausgabe immerhin ganze 4185 Seiten aufweisen kann, die Printausgabe von „Unterwegs nach Chevreuse dagegen lediglich 160 Seiten dünn ist. Bei allen Parallelen direkt vergleichen lassen sie sich schlecht.

Die Geschichte in „Unterwegs nach Chevreuse“ ist auch wesentlich fragmentarischer angelegt. Die Handlung, einige düstere Gestalten sind einem Geheimnis um das Haus in der Rue du Docteuer-Kurzenne auf der Spur, welches Jean Bosmans zu kennen glaubt, wird immer nur in Teilstücken und gleichzeitig auf den verschiedenen zeitlichen Ebenen seiner Erinnerungen erzählt. Die Zeitebenen und Erinnerungen sind unsicher, teilweise verschwimmen sie.

Patrick Modiano erzählt die Geschichte in einer wunderbaren schwingenden und schwebenden Sprache. Kunstvoll werden die realen und geträumten Erinnerungen Bosmans miteinander verwoben. Das alles ist sehr gekonnt aufgebaut und herrlich arrangiert, allerdings nicht einfach zu lesen. So scheinbar leicht und schwebend der kleine Roman daherkommt, er verlangt von den Lesenden große Konzentration.

„Unterwegs nach Chevreuse“ hat die Feuilletons begeistert und ist in Sprache, Komposition und Reminiszenzen ein Fest für Liebhaber*innen der besonderen Literatur. Ohne nähere Kenntnisse zu Modianos Werk oder besser noch seinen einschlägigen Vorgängerromanen, ist der Roman allerdings nur mit erheblichen Einschränkungen zu genießen. Übrig bleibt in diesem Fall eine, zwar auf sehr hohem Niveau erzählte, aber doch wenig unterhaltsame Geschichte. Eher eine Episode, die viel mehr an eine Erzählung, als an einen Roman erinnert. Als Erzählung großartig gelungen, für einen Roman ist das aus meiner Sicht jedoch einfach nicht genug.

      • Patrick Modiano, Unterwegs nach Chevreuse
      • Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
      • OA: „Chevreuse“, 2021
      • E-Book, Printausgabe 160 Seiten
      • Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München
      • ISBN 978-3-446-27565-2 
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