Cover Die Königin von Troisdorf
Biographie,  Gesellschaftsroman

Andreas Fischer „Die Königin von Troisdorf“

Mit großen Erwartungen hatte ich dem Eintreffen des Romans „Die Königin von Troisdorf“ von Andreas Fischer entgegengesehen. Die Familiengeschichte des Autors. Ein Roman über das Aufwachsen in der Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre. Gutbürgerliche Fassade, dahinter die Menschen geprägt durch zwei Weltkriege, Wilhelminismus und dem Gift des Nationalsozialismus. Ideologische Verblendung und nicht verarbeitete, traumatische Kriegserlebnisse, die noch über Generationen hinweg das Leben aller Beteiligten beeinflussen. Ein großes, ein wichtiges Thema. Ich darf schon an dieser Stelle vorwegnehmen, dass meine Erwartungen keinesfalls enttäuscht, ja übertroffen wurden.

 [Werbung, weil kostenloses Rezensionsexemplar]

Andreas Fischer ist Jahrgang 1961 und hat eine Kindheit in den 60er und 70er Jahren erlebt. Eine Zeit die noch geprägt war von den Generationen zweier Weltkriege. Abitur, Zivildienst und eine Ausbildung zum Fotografen. Später dann Studium der Filmwissenschaft, Psychologie und Ethnologie. Nach einer Lehrtätigkeit am Institut für Theaterwissenschaften an der FU Berlin und Tätigkeit als künstlerisch-wiss. Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien in Köln, lebt er jetzt als freier Filmemacher, Fotograf und Autor in Berlin.

Die Auswirkungen von Kriegen und Kriegstraumata auf die Nachkriegsgenerationen, der Verlust der Väter und generell das Aufwachsen in den Nachkriegslandschaften bilden den langjährigen Schwerpunkt Andreas Fischers Tätigkeit. In zahlreichen Filmen, Dokumentationen und Ausstellungen seiner zum großen Teil sehr persönlichen Fotografien, setzt er sich mit der Nachkriegszeit, den Menschen und insbesondere den Lebenswegen seiner Familie auseinander. „Die Königin von Troisdorf“ ist sein Debütroman.

Hält man den Roman in den Händen, wird der Blick unweigerlich von dem dominierenden Umschlagsfoto angezogen. Es stammt aus dem Jahr 1970 und zeigt den Autor als neunjährigen Jungen zusammen mit seiner Großmutter stehend vor typischer 60er Jahre Architektur. Der Junge ist festlich in dunkler Anzugjacke, Lackschuhen und kurzer Hose gekleidet. Die Großmutter, mit schwarzer Jacke, Rock, Tasche und Hut. Beide Personen, Straße und Vorgärten, alles schlicht, statisch, akkurat. Es wird nicht gelächelt. Die verblassten Farben des Fotos unterstreichen die Kälte, die von diesem Bild ausgeht. Allen Personen meiner Generation, denen ich dieses Bild zeigte bestätigten, dass es den Geist der Zeit exakt wiedergibt. Viele von ihnen äußerten, ebenfalls eine solche Oma bzw. Tante gehabt zu haben und sich an derartige Aufnahmen erinnern zu können. Das Umschlagbild ist nicht einfach nur ein Familienfoto, es ist ein realistisches Dokument dieser Zeit.

„…und wenn dich jemand fragt, wer du bist, dann sagst du, du bist der Sohn von Foto Fischer.“

Die Familie Fischer hat es nach dem Krieg zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Die Eltern des Autors, Reinhold und Ilse Fischer, sind Kleinunternehmer und betreiben in der Kleinstadt Troisdorf das gut gehende Fotoatelier „Foto Ilse Fischer“. Mit dem einzigen Sohn Andreas bewohnen sie ein eigenes Haus. Aus Gründen prinzipieller Sparsamkeit leben sie allerdings lediglich im Obergeschoss, das Erdgeschoss ist vermietet. Ganz oben unterm Dach lebt die Großmutter Lena. Einige Häuser weiter gibt es noch Tante Hilde und Onkel Bruno.

„Sie haben einen Weltkrieg gemeinsam überlebt und gelernt, dass es keine Sicherheit gibt. Alles kann verloren gehen. Das Bollwerk gegen die Unsicherheit der Welt sind sie selbst, ist ihr Zusammenhalt. Diese Familie ist ein fein justiertes Getriebe. Alle Teile haben ihren Platz und greifen ineinander.“

Die Leben der Familienmitglieder sind sehr eng miteinander verflochten. Ilse und Reinhold arbeiten bis zur Erschöpfung im Geschäft, Tante Hilde erledigt für die gesamte Familie die Wäsche und Einkäufe. Zudem beaufsichtigt sie Andreas täglich bei den Hausaufgaben. Über allen thront Großmutter Lena.

„Das beschriebene Getriebe arbeitet sehr zuverlässig, nahezu ohne jegliche Störungen. Störungen werden nicht zugelassen.“

Das von außen betrachtet scheinbar bestens funktionierende Familiensystem erweist sich bei näherer Ansicht als äußerst belastet und geradezu toxisch für die einzelnen Familienmitglieder. Sie alle weisen schwere seelische Verwundungen und Eigenarten auf, die das enge Zusammenleben verdunkeln, ja zur Hölle machen. Die Ursachen liegen zum großen Teil in der Vergangenheit der Familienmitglieder verborgen. Eine Vergangenheit, gar nicht untypisch für eine deutsche Familie in den Zeiten zwischen 1921 und 2021.

Der Roman ist unkonventionell aufgebaut. In neunundfünfzig Kapiteln spürt Andreas Fischer der Geschichte seiner Familie und deren Mitgliedern nach. Er selbst und seine ausgesprochen detaillierten, tagebuchartigen Erinnerungen an die Kinder- und Jugendzeit stehen dabei im Zentrum des Geschehens. Jedes Kapitel ist einem Aspekt des so auffälligen Familiensystems gewidmet. Kollagenartig führt der Autor Erinnerungen, Briefe und Unterlagen aus Militärarchiven zusammen. Sehr subjektive Szenen und Eindrücke der Beteiligten. Auf den ersten Blick ohne eine besondere Chronologie, nur bestimmt durch den Gegenstand, dem das Kapitel gewidmet ist. Durch diese raffinierte Erzählweise eröffnen sich den Lesenden zu jedem Thema ganz unterschiedliche Perspektiven, was ein besseres Verständnis der Handlungen und Motivationen der Beteiligten ermöglicht.

Die Familie wird beherrscht von einer großen emotionalen Kälte. Härte gegen sich selbst und andere ist an der Tagesordnung. Niemand hat die Fähigkeit Gefühle zu offenbaren. Individualität und Eigenständigkeit sind verpönt. Es herrschen Unbarmherzigkeit und Lieblosigkeit. Im Epizentrum des Systems stehen Mutter Inge und Großmutter Lena, die der Sohn und Enkel Andreas erschreckenderweise nur noch mit „Hindenburg und Ludendorff“ betiteln kann.

„Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist.“

Alle Familienmitglieder tragen aber auch eine schwere, traumatische Vergangenheit auf ihren Schultern. Bittere Armut nach dem ersten Weltkrieg, der Sohn (Bruder) im Krieg gefallen, nationalsozialistische Erziehung und Verblendung, Kriegstraumata und Obrigkeitshörigkeit. Alles unverarbeitet, niemals ausgesprochen und unter den Teppich gekehrt. Eine gute katholische Familie. Alles in Ordnung. Jeder bleibt mit seinen Verwundungen allein und zerbricht daran auf seine ganz eigene Weise.

Erst dem Autor selbst wird sich die Gelegenheit eröffnen, diesem Teufelskreis zu entkommen. Nach und nach gelingt es ihm sich freizukämpfen und aus dem System herauszutreten, dessen fester Bestandteil er jahrelang gewesen ist.

„Der Sandmann bin ich. Ich werde tüchtig Sand ins Getriebe werfen, letztlich fliehen und mich in Sicherheit bringen.“

Das Buch ist alles andere als eine Abrechnung. Ganz im Gegenteil gelingt Andras Fischer eine Annäherung an die einzelnen Mitglieder seiner Familie und das gesamte Familiensystem. Es wird ein differenzierter Blick auf die handelnden Personen gewährt. Hier wird nicht einfach verurteilt, sondern die Frage nach den Umständen gestellt, die diese Familienmitglieder geformt haben. Der Autor bricht nicht den Stab, sondern versucht zu verstehen. Offensichtlich spielt eine Weitergabe von Kriegstraumatisierungen über mehrere Generationen hinweg eine bedeutende Rolle im System der Familie Fischer. Es ist erkennbar, dass diese Verletzungen noch auf die Enkelgeneration einen negativen, zerstörerischen Einfluss ausüben.

Aus den vielen einzelnen Erinnerungen, Briefen und Dokumenten setzt sich allmählich ein größeres Bild zusammen. Es entsteht ein sehr detailliertes Gesellschaftsportrait über das Leben und die Verhältnisse in der Bundesrepublik der 1960er /70er Jahre. Ärzte, die bei der Blutabnahme vom Schmerz fürs Vaterland schwadronieren; Mütter, die ihren Säugling schreien lassen, weil das die Lungen stärkt; Cola, die Besatzerbrause genannt wird; Lehrern, Pastoren und Polizisten, denen Kinder keinesfalls widersprechen dürfen; Zivis als Vaterlandsverräter; Kinder, die immer selbst schuld sind; Fremdes, das es zu bekämpfen gilt und überhaupt Angst vor Männern mit Schnauzbärten! Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Sie gibt nicht nur Auskunft über die Familie Fischer, sondern auch über die Situation in weiten Kreisen der bundesrepublikanischen Gesellschaft dieser Zeit.

Zum großen Glück gab es daneben aber immer auch Menschen wie die liebevolle Tante Hilde, das kinderliebende, gefühlvolle und warmherzige „Herzlieb“ des Autors.

Das Buch ist vieles zugleich. Zuallererst Roman zur Geschichte einer Familie, gleichzeitig aber auch Autobiographie. Durch die oft filmische Anmutung der Kapitel entsteht zudem immer wieder der Eindruck einer Dokumentation. Genau diese Uneindeutigkeit macht einen besonderen zusätzlichen Reiz des Buchs aus.

Mit „Die Königin von Troisdorf“ ist Andreas Fischer ein eindrucksvolles, sehr persönliches und tief bewegendes Zeitdokument der 60er und 70er Jahre gelungen. Er blickt nicht einfach nostalgisch zurück, sondern bringt die Verblendungen, Kälte und Verletzungen der Nachkriegsgenerationen ans Tageslicht. Ein faszinierender Roman und Schlüssel zum tieferen Verständnis dieser Zeit. Ein Buch, das geschrieben werden musste.

      • Andreas Fischer, Die Königin von Troisdorf
      • Hardcover, 473 Seiten
      • eschen 4 verlag, Berlin, 2022
      • ISBN 978-3-00-070369-0
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