Robert Harris „Der zweite Schlaf“
„Am Spätnachmittag des neunten Tages im April des Jahres Unseres Auferstandenen Herrn 1468, einem Dienstag, suchte ein einsamer Reiter seinen Weg.“
Der Südwesten Englands im Jahr 1468. Der junge Priester Christopher Fairfax reitet spätabends bei strömenden Regen durch eine einsame Moorlandschaft. Er hat den Auftrag, im abgelegenen Dorf Addicott St George den unter mysteriösen Umständen verstorbenen Gemeindepfarrer Thomas Lacy zu beerdigen. Keinesfalls will er länger als nötig in dem von bitterer Armut geplagten rückständigen Nest verweilen. Er beabsichtigt bereits am nächsten Tag nach der Beerdigung wieder Richtung Exeter zu seinem Bischof zurückzureisen. Über Nacht richtet er sich im Pfarrhaus ein. Eine verschwiegene Haushälterin, ein stummes Mädchen, ein fleißiger Schmied und ein zwielichtiger Küster treten auf den Plan. Der Leichnam des Pfarrers ist übersät mit auffälligen, schweren Verletzungen, die irgendwie nicht zu der geschilderten Todesursache passen wollen. Angeblich soll er am gefürchteten „Teufelsstuhl“ zu Tode gestürzt sein. Was hatte er dort zu suchen und wurde er vielleicht das Opfer eines Verbrechens?
Der Roman „Der zweite Schlaf“ beginnt geradezu konventionell, als mittelalterliche Kriminalgeschichte. Der Brite Robert Harris (*1957 in Nottingham) gilt als einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart und ist einem breiten Publikum bereits durch seine Bestseller-Romane, insbesondere sein Erstlingswerk „Vaterland“, bestens bekannt. Auch seine weiteren Romane wie „Enigma“, die Cicero Trilogie, „Pompeji“ oder „München“, hatten konkrete historische Szenarien zum Hintergrund.
— Vorsicht Spoiler ! —
Interessanterweise weicht er jetzt jedoch mit „Der zweite Schlaf“ von seinem bisherigen Erfolgsrezept ab. Gerade hat man sich, ganz wie der Priester Christopher Fairfax, in dem gut erzählten mittelalterlichen Szenario gemütlich eingerichtet, da nimmt die Handlung mit einem Mal eine abrupte, geradezu unerhörte Wendung. Als sich Fairfax im Arbeitszimmer des verstorbenen Pfarrers bei Kerzenschein näher umschaut, bemerkt er eine Glasvitrine, in der sich neben verschiedenen Münzen und Ringen aus Gold auch uralte Plastikbanknoten, Plastiktrinkhalme, eine Plastikpuppe und, als Krönung des Ganzen, offenbar ein altes erloschenes Smartphone mit der sündhaften Abbildung eines angebissenen Apfels befinden. Fairfax ist über seine Entdeckung zwar sehr erschrocken, grundsätzlich scheinen ihm die Objekte jedoch nicht völlig unbekannt zu sein. Rätselhaft und faszinierend.
Schnell wird klar, dass hier nicht etwa Außerirdische ihre Hände im Spiel haben, sondern die mittelalterliche Welt des Jahres 1468 nach unserer Zeitrechnung tatsächlich im 28. Jahrhundert, also weit in der Zukunft, zu verorten ist. Die modernen technisierten Zivilisationen wie wir sie kennen, wurden allesamt vor ca. achthundert Jahren durch eine nicht näher bekannte gigantische Katastrophe zu großen Teilen ausgelöscht. Seitdem lebt die Menschheit ohne Elektrizität und moderne Technologien in einer quasi mittelalterlichen, postapokalyptischen Welt der Finsternis. Die traditionellen christlichen Kirchen haben nicht nur in England die Deutungshoheit übernommen und ziehen in einem feudalen Gesellschaftssystem im Hintergrund die Fäden. So wird die Katastrophe als verdiente Gottesstrafe für die blasphemische Anbetung der Technologe und die Abwendung von Gott erklärt. Sämtliche Erinnerungen an Wissenschaft, technologischen Fortschritt und die zivilisatorischen Errungenschaften der späten Neuzeit, wurden zudem aus dem Bewusstsein der überlebenden Menschheit getilgt. Jeder der es wagt diese Dogmen auch nur zu hinterfragen, macht sich der Ketzerei schuldig und wird gnadenlos verfolgt.
Ausgerechnet der verstorbene Pfarrer Lacy scheint sich jedoch nicht an die strengen Regeln seiner eigenen Kirche gehalten zu haben. Im Dorf Addicott St George war er vielmehr bekannt dafür, auf den Feldern nach alten, technischen Gegenständen zu graben und verbotenen Gedanken nachzuhängen. Neben den vorzeitlichen modernen Artefakten in seiner Vitrine, ziert auch eine große Sammlung ketzerischer Schriften sein Arbeitszimmer. Besonders verwerflich sind darunter die Protokolle und Schriften einer geheimnisvollen „Gesellschaft für Altertumsforschung“, die eigentlich gar nicht mehr existieren dürften. Schon das Wort „Altertumsforschung“ im Munde zu führen ist bei Strafe verboten. Natürlich siegt die Neugier des jungen Priesters Fairfax über dessen Angst vor Gottes Strafe und insbesondere vor seinem Bischof in Exeter. Über Nacht liest er sich in die verbotenen aber ungeheuer interessanten Werke ein. Sie enthalten geheimnisvolle, verloren geglaubte Informationen aus der Zeit der großen Katastrophe:
„Unsere moderne Gesellschaft hat inzwischen ein Niveau der Differenziertheit erreicht, das uns auf einzigartige Weise für einen totalen Kollaps anfällig macht. Mit dem Transfer zahlloser wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten in den Cyberspace hat sich die Bedrohungslage seit dem Jahr 2000 erheblich verschärft. Und dennoch ist auf Regierungsebene keine entsprechende Notfallplanung erfolgt. Ein länger andauerndes allgemeines Versagen der Computernetze würde zum Beispiel – vor allem im städtischen Raum – binnen vierundzwanzig Stunden zu Engpässen in der Versorgung mit Lebensmitteln und Kraftstoff führen, zu einer dramatischen Beeinträchtigung bei der Geldversorgung (Ausfall von EC-Automaten, Kreditkarten-Transaktionen und Online-Banking), zu Störungen im Kommunikations- und Informationswesens, zum Zusammenbruch des Transportwesens, zu Panikkäufen, zu Massenexodus und zivilen Unruhen.“
Mutig beginnt der junge Priester die bestehenden Verhältnisse zu hinterfragen. Der Tod des alten Gemeindepfarrers scheint irgendwie mit der Lösung des Geheimnisses in Verbindung zu stehen. Auf der Suche nach Wahrheit begibt er sich auf eine gefährliche Mission, die ihn und seine Mitstreiter schon bald in höchste Gefahr bringen.
Robert Harris` Kunstgriff, einen konventionellen Mittelalterroman in eine Dystopie zu verwandeln, ist genial. Die mittelalterliche Welt des Romans ist im wahrsten Sinne des Wortes auf den Ruinen der modernen technischen Zivilisationen erbaut worden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass deren Artefakte und Errungenschaften überall ans Tageslicht drängen. Direkt unter der Erde schlummert das alte Wissen und wartet nur darauf gehoben zu werden. Dies wäre jedoch Ketzerei und die Autoritäten unternehmen alles, um dieses Grab geschlossen zu halten.
Der Roman wirft einen düsteren Blick auf eine erschreckende Zukunft. Nachdrücklich führt uns Harris vor Augen, wie dünn der Firnis unserer Zivilisation tatsächlich ist. Die These einer mangelhaften Resilienz der westlichen Gesellschaftssysteme, wird hier konsequent zu Ende geführt. Es scheint, dass die immer nur angedeutete Katastrophe nicht einmal allzu groß gewesen sein muss, um die hochtechnisierte und hochdifferenzierte Welt in der wir leben vollständig untergehen zu lassen. Harris entwirft ein konsequentes Szenario unserer Welt nach ihrem Untergang. Parallelen zur Problematik des Klimawandels und aus britischer Sicht nicht zuletzt auch zum Brexit, drängen sich hier geradezu auf. Diese Aktualität macht den Roman besonders beunruhigend.
Auch der Titel des Romans„Der zweite Schlaf“ ist geschickt gewählt. Auf wunderbare Weise nimmt er die im 15. Jahrhundert weit verbreitete Vorstellung auf, der Nachtschlaf werde grundsätzlich durch eine Wachphase um Mitternacht unterbrochen, nach der man wieder in einen neuen, bis zum frühen Morgen andauernden, zweiten Schlaf fiele. Könnte unsere technologische und geisteswissenschaftliche „neueste Geschichte“ letztendlich ebenfalls nur eine kurze helle Wachphase in einer finsteren altertümlichen und mittelalterlichen Nacht der Menschheitsgeschichte gewesen sein?
Abseits dieser äußerst interessanten Themen und Spekulationen ist der Roman zudem auch gekonnt und spannend erzählt. Ganz klar ein Page-Turner. Zwar ist die übrige Handlung etwas konventionell und die Charaktere sind recht eindimensional geraten, trotzdem macht es Spaß, Christopher Fairfax` bei seinen Nachforschungen durch das mittelalterliche Dorf und die Stadt Exeter zu begleiten.
Die historische Katastrophe selbst und auch die näheren Hintergründe um die verbotenen Gesellschaft für Altertumsforschung bleiben allerdings weitgehend im Dunkeln. Auch das Ende des Romans, nach einem großen Finale, ist völlig offen gestaltet und lässt die Lesenden etwas ratlos und mit vielen Fragen zurück. Grundsätzlich bin ich zwar ein großer Freund offener Romanenden, hier habe ich jedoch den Eindruck, dass eine Menge guter Möglichkeiten vergeben wurde. Die absolut faszinierende Idee der untergegangenen technisierten Zivilisationen hätte sehr gut weiter und detaillierter ausgeführt werden können. Das Verhältnis des in England dominierenden Christentums zu den offensichtlich auch noch bestehenden anderen Religionen auf dem Kontinent wird nur ganz am Rande angerissen. Auch die vergangenen 800 Jahre bleiben weitegehend im Dunkel. Der Stoff wäre für eine kleine Romanreihe prädestiniert gewesen. Hier hat Robert Harris letztendlich auf Einiges verzichtet.
Ein faszinierender, verstörender, spannender Roman von beträchtlichem aktuellen Belang.
Robert Harris, Der zweite Schlaf
Taschenbuch, 415 S.
Wilhelm Heyne Verlag
ISBN 978-3-453-42478-4