Belletristik

Solvej Balle, „Über die Berechnung des Rauminhalts II“

Ein großangelegtes Romanprojekt wird fortgeführt

„Über die Berechnung des Rauminhalts II“ der dänischen Autorin Solvej Balle ist als zweiter Teil eines großen Romanprojekts, genauer gesagt einer Heptalogie, angekündigt. Die ersten vier Teile liegen bereits vor, nach Band eins ist jetzt auch der zweite Band im Verlag Matthes & Seitz Berlin in deutscher Übersetzung erschienen.

Man darf mich jetzt gerne für kleinkariert halten, aber nach Abschluss der Lektüre, muss ich mir zunächst einmal darüber klarwerden, was genau ich mit diesem schmalen, knapp 200 Seiten zählenden, Band II hier eigentlich vor mir habe. Sofort auf den ersten Seiten wird deutlich, dass es sich um die nahtlose Fortführung der faszinierenden Geschichte der Buchhändlerin Tara Selter handelt, die sich eines Tages, einem 18. November, völlig unvermittelt gefangen in einer Zeitschleife wiederfindet. Der erste Roman der Reihe „Über die Berechnung des Rauminhalts I“, den ich bereits mit größter Begeisterung gelesen und auf meinem Blog vorgestellt habe, befasste sich mit dem plötzlichen Auftreten eines temporalen Phänomens und natürlich auch mit Tara Selters Versuchen, die Zeitschleife zu ergründen und Möglichkeiten zu finden, ihr zu entkommen. Eine spannende, ja fesselnde Romanhandlung, deren Verlauf die Autorin gekonnt und sprachlich ausgesprochen versiert nutzte, die bewegenden sozialen und psychischen Folgen für Tara auszuloten. Diese Verbindung der spannenden Auswirkungen einer temporalen Anomalie und den sprachlich virtuos aufgeworfenen existenziellen Fragen funktionierte in Band I ganz wunderbar und machte ihn zu einem ausgesprochen gelungenen Roman. Einem Roman, der eigenständig war und der aus meiner Sicht auch einen stimmigen und würdigen, wenn auch offenen, Abschluss gefunden hatte.

 

Was bedeutet jetzt „Band II“?

Aber natürlich war schon bei Erscheinen von Band I bekannt, dass es sich hier lediglich um den ersten Teil eines siebenbändigen Projekts handelte, dessen ersten drei Bände noch dazu mit dem „Literaturpreis des Nordischen Rates 2022“ ausgezeichnet worden waren. 

In der Literatur sind Mehrteiler (oder auch Werkzyklen genannt) keinesfalls ungewöhnlich. Meist handelt es sich um in sich geschlossene Werke, die für sich genommen zwar eigenständig sind, dabei trotzdem untereinander in einer übergreifenden Beziehung stehen. Es kann allerdings auch sein, dass die einzelnen Werke eines Mehrteilers unselbstständig sind und lediglich getrennt wurden, um einen sehr umfangreichen Stoff aufzulockern. Sozusagen ein einzelner Gesamtroman, der eine durchgehende Geschichte erzählt und lediglich der besseren Lesbarkeit wegen, in einzelne handlichere Bücher aufgeteilt wurde. Als Beispiel möchte ich in diesem Zusammenhang Thomas Manns „Buddenbrooks“ erwähnen, die zuerst tatsächlich als zweibändige Ausgabe erschienen und erst später als die einzelne dicke Gesamtausgabe, die wir kennen.  Jetzt nach der Lektüre von „Die Vermessung des Rauminhalts II“ drängt sich bei mir der Eindruck auf, dass es sich auch bei Solvej Balles Romanprojekt in Wahrheit um einen einzigen großen Gesamtroman handeln könnte, der lediglich aus praktischen Gründen in mehr oder weniger unselbstständige Einzelbände aufgeteilt wurde. Und genau diese Konstruktion führt direkt zu meinem Problem mit dem vorliegenden Band II, denn ganz im Gegensatz zum ersten Band, funktioniert Band II als Einzelband einfach nicht.

 

Ein Text von hoher literarischer Qualität

Geradezu nahtlos knüpft die Geschichte in Band II an das Ende des ersten Bandes an. Es ist der Beginn von Taras zweitem Jahr der Gefangenschaft in der Zeitschleife. Gerade ein Tag ist zwischenzeitlich vergangen. Taras bereits im ersten Band begonnene Entfremdung von der Welt der übrigen Bevölkerung setzt sich fort. Eine Teilnahme am Leben der Anderen ist für sich nicht mehr möglich. Immer weiter verfällt sie in die Perspektive der außenstehenden Beobachterin.

 

„Und nun, da der achtzehnte November chronisch geworden ist, sind meine Tage einfach, ich verkehre in wohlbekannten Straßen, aber ich gehöre nicht mehr dazu.“

 

Sie vermisst den ihr noch zur Verfügung stehenden Raum ihrer Existenz und setzt sich dabei immer ausgiebiger mit dem Wesen und dem Verlauf von Zeit auseinander, was sie auch zu wirklich interessanten, ungewöhnlichen Perspektiven und Einsichten führt.

 

„Die Tara Selter mit Zukunft, sie ist verschwunden. Tara Selter mit Träumen und Erwartungen, die aus dem Bild gefallen sind, aus der Welt geworfen, über den Rand gelaufen, ausgegossen, fortgeführt mit dem Strom der achtzehnten November verloren.“

 

Um die verlorenen Jahreszeiten festzuhalten, versucht sie ihnen nachzureisen. Mit Hilfe eines selbstangelegten „Jahreszeitenbuchs“ beginnt sie eine Reise durch Europa.

 

„Ohne Jahreszeiten keine Zeit. Wenn ich Jahresszeiten haben will, muss ich sie mir bauen. Wenn ich eine Zukunft haben will, muss ich sie mir bauen. Ich sammle die Teile zusammen, kleine Teilchen Jahreszeit, und ich schreibe alles in mein Handbuch: die Ingredienzen der Jahreszeiten.“

 

Wie schon im ersten Band hat auch Band II wieder sehr interessante und ungewöhnliche Perspektiven zu bieten. Überhaupt ist es wieder ein Text von großer literarischer Qualität. Eine herrliche, melodische, gleichzeitig auch nüchterne Sprache und natürlich eine außerordentlich gelungene Übersetzung aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Das ist wieder überragend.

 

Wenn „Roman“ draufsteht, sollte auch Roman drin sein!

Bei aller Qualität des Textes, auf dem Umschlag (bezeichnenderweise nicht auf der Titelei!) steht „Roman“. Bei mir erweckt das die Erwartung, ein halbwegs eigenständiges Werk vor mir zu haben. Aber für einen eigenständigen Roman, oder auch nur den einzeln verkauften zweiten Band eines großen Gesamtromans, reicht die in Teil zwei erzählte Geschichte einfach nicht aus. Den durchaus interessanten Erfahrungsberichten und Reflexionen Tara Selters steht in Band II einfach keine tragende Handlung mehr zur Seite. Das noch in Band I so überraschende und fesselnde Ereignis der plötzlich aufgetretenen Anomalie ist nunmehr Taras gewohnter Alltag geworden und vermag die Leser*innen nicht mehr in seinen Bann zu ziehen. Tara hat ihre spannenden Versuche aufgegeben, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Es ist in Band II kein besonderes Thema mehr. Dieser widmet sich stattessen hauptsächlich Taras Bemühungen, ihre Existenz in dem ihr zur Verfügung stehenden begrenzten Erlebnisraum zu reflektieren. Ohne die spannenden Umstände rund um die Anomalie wirkt dieser zweite Band auf mich zwar wie ein literarisch und philosophisch anspruchsvoller sehr gelungener Text, ein Roman ist das allerdings nicht mehr. So gekonnt die Ausführungen der Autorin auch sind, sie sind einfach zu ausschweifend und können die Geschichte  allein nicht tragen. Wenn ein verstauchter Knöchel der Höhepunkt eines Romans ist, reicht mir das einfach nicht. 

Es hat den Anschein, als sei der Autorin diese Schwäche des zweiten Teils irgendwann selbst klar geworden, denn ganz zum Schluss des Bandes platziert Solvej Balle völlig überraschend noch einen großen Cliffhanger, der dann doch neugierig darauf macht, wie die Geschichte Tara Selters in Band drei weitergehen wird.

Ich halte die Entscheidung „Über die Berechnung des Rauminhalts II“ als Einzelband herauszubringen und dann auch noch „Roman“ darauf zu drucken für sehr unglücklich. Ohne die Kenntnis und den Rahmen der Vorgeschichte aus Band I kann Band II nicht verstanden werden. Zudem fehlt es dem Buch bei aller literarischer und philosophischer Qualität als Roman schlichtweg an einer tragenden Handlung. Wie der Cliffhanger andeutet, wird sich das mit Erscheinen von Band III wahrscheinlich wieder ändern, aber gerade deshalb erschließt sich mir nicht, warum die Autorin die ersten drei Bände nicht zu einem einzelnen, größeren Band zusammengefasst hat.

 

Was bleibt?

„Über die Berechnung des Rauminhalts II“ von Solvej Balle ist ein wunderbarer anspruchsvoller Text, der sich aus ganz ungewohnten Perspektiven und auf hohem literarischem Niveau mit dem Stoff beschäftigt, aus dem unsere persönliche Zeit gemacht ist. Ein philosophisches Ausloteten der Bedingungen unserer Existenz.

Der vorliegende Band II des Romanprojekts ist die unselbstständige Fortführung des besonders gelungenen ersten Bandes, die selbst jedoch nicht als Roman bestehen kann und dringend auf Band III warten lässt.

In Anbetracht der großen Qualität von Band I, habe ich auch Band II gerne und mit Gewinn „als Brücke“ gelesen und hoffe auf den dritten Teil des absolut faszinierenden Projekts.

  • Solvej Balle, Über die Berechnung des Rauminhalts II
  • Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
  • OA: „Om udregning of rumfang II, 2020
  • Hardcover, 191 Seiten
  • MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2023
  • ISBN 978-3-7518-0927-6
  • Preis: 22 €

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