Belletristik

Solvej Balle, „Über die Berechnung des Rauminhalts I“

„Begeisterung für Bücher“ ist das Motto dieses Blogs, und ab und zu trifft man auf Lektüren, die es einem ganz besonders leicht machen, sich ganz und gar für sie zu begeistern. Bei dem nur 170 Seiten kurzen Roman „Über die Berechnung des Rauminhalts I“, der dänischen Autorin Solvej Balle ist das der Fall.

Solvej Balle wurde 1962 in Bovrup (Nordschleswig) geboren. Nach Studium der Literatur und Philosophie in Kopenhagen, veröffentlichte sie 1984 ihren ersten Roman. Sie gilt als sehr bedeutende dänische Autorin, über die zu lesen ist, dass sie in den 1990er Jahren eines der berühmtesten Werke der dänischen Literatur geschrieben hat. Die auf sieben Bände ausgelegte Buchreihe „Über die Berechnung des Rauminhalts“ wird als ihr großes Comeback gewertet. Drei Bände der Reihe sind bisher auf Dänisch erschienen. Dafür wurde Solvej Balle gerade mit dem „Literaturpreis des Nordischen Rates 2022“ ausgezeichnet. Band „I“ ist jetzt beim Verlag Matthes & Seitz Berlin in der Übersetzung von Peter Urban-Halle auf Deutsch erschienen.

„Seltsam, dass man vom Unwahrscheinlichen derart in Unruhe versetzt werden kann, denke ich nun. Wo wir doch wissen, dass unsere ganze Existenz auf Merkwürdigkeiten und unwahrscheinlichen Koinzidenzen beruht. Dass wir es diesen Merkwürdigkeiten verdanken, überhaupt hier zu sein. Dass es auf diesem Etwas, das wir unseren Planeten nennen, Menschen gibt, dass wir auf einer rotierenden Kugel verkehren können, in einem unermesslichen Weltraum voll unbegreiflich großer Objekte mit so kleinen Teilchen, dass der Gedanke es gar nicht fasst, wie klein und zahlreich sie sind. (…) Dass wir überhaupt existieren.“

Auf einem Blog mit dem Namen Horatio-Bücher, darf eine Rezension auch mal mit einem Hamlet Zitat beginnen: „The time is out of joint“ („Die Zeit ist aus den Fugen“). Genau das ist nämlich die Situation, in der sich Tara Selter, die Ich-Erzählerin des Romans, während einer Geschäftsreise nach Paris völlig unerwartet wiederfindet. Tara betreibt mit ihrem Mann Thomas einen Handel mit antiquarischen Büchern, vor allem illustre Werken aus dem achtzehnten Jahrhundert. Zusammen bewohnen sie ein Haus in einer ruhigen französischen Kleinstadt, von dem aus sie auch ihr Versandgeschäft betreiben.

Anlässlich mehrerer Antiquariatsbesuche hält sich Tara einen Tag in Paris auf. Es ist der 18. November und eigentlich ein ganz gewöhnlicher Tag. Nach dem Frühstück im Hotel besucht sie verschiedene Antiquariate. Zuletzt das das Geschäft des befreundeten Händlers Philip Maurel. Philip, dessen Freundin Marie und Tara kommen ins Gespräch. Gemeinsam verbringen sie einen schönen Abend. Wieder zurück im Hotel, telefoniert Tara bevor sie zu Bett geht noch einmal mit Thomas.

„Es ist das letzte Mal, das ich mit Thomas sprach, bevor die Zeit aus den Fugen geriet.“

Dann geschieht das Unfassbare: Am nächsten Morgen fällt ihr auf, dass sie wieder exakt am Morgen des 18. Novembers erwacht ist. Für Tara beginnt wieder derselbe 18. November, genau wie ein Tag zuvor. Alles scheint exakt gleich zu sein. Alle Ereignisse und Abläufe scheinen wieder auf dieselbe Art und Weise zu geschehen. Es scheint sich um eine Art temporaler Anomalie zu handeln.

Jetzt dämmert es den Lesenden, warum das erste Kapitel des Romans mit der seltsamen Überschrift „#121“ versehen ist. Die temporale Anomalie hat die Gestalt einer vollständigen, vierundzwanzigstündigen Zeitschleife. Es ist bereits Taras hunderteinundzwanzigster 18. November, mit der Solvej Balles Erzählung beginnt. Erschreckend. Die Ich-Erzählerin weiß bereits, dass sie seit Monaten aus der Zeit gefallen ist.

Nicht nur Nerds sind bei diesem Beginn sofort elektrisiert. Temporale Anomalien und ganz besonders Zeitschleifen-Szenarios sind in der SF-Literatur ein altbewährtes Thema und immer auch sehr interessant. Ich verweise exemplarisch auf H.G. Wells „Zeitmaschine“, das hier bereits vorgestellte „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier oder einige Geschichten von Stanislav Lem. Gerade auch das Hollywood-Kino hat diesbezüglich einiges vorzuweisen. Film-Blockbuster wie „Edge of Tomorrow“, „Zurück in die Zukunft“, „Matrix“ oder besonders „Und täglich grüßt das Murmeltier“, haben sich mit dieser Thematik in ganz unterschiedlichen Variationen mehr oder weniger anspruchsvoll auseinandergesetzt. Noch dazu ist jeder „Trekkie“ mit den Auswirkungen von Kausalitätsschleifen und temporalen Anomalien bestens vertraut.

Während aber gerade in den sehr populären Spielfilmen meist die Ursachen und vor allem das Durchbrechen der Phänomene im Mittelpunkt des Geschehens stehen, reicht Solvej Balles leiser, poetischer und sehr berührender Roman bemerkenswerterweise weit über diese physikalischen Problematiken hinaus.

Zunächst beginnt natürlich auch Tara Selter damit, die zeitliche Anomalie und die für sie noch zur Verfügung stehenden Spielräume eingehend zu untersuchen. Offenbar ist sie zwar an den 18. November, nicht aber an einen bestimmten Ort gebunden. Ihr nächster 18. November beginnt für sie immer ganz genau an dem Ort, an dem der letzte zu Ende gegangen ist. Tara kann daher ihren Aufenthaltsort weiterhin frei wählen, nicht aber den Tag. Nur sie selbst kann sich zudem an sämtliche vergangene Versionen des 18. November vollständig erinnern. Für alle anderen Menschen beginnt jede folgende Version immer wieder als vollkommen neuer Tag, ohne Erinnerung an die vergangenen. Die übrigen Menschen können die Zeitschleife, in der sie gefangen sind, selbst nicht wahrnehmen.

Gleich am ersten Tag der Anomalie war Tara nach Hause gereist und hatte Thomas in ihre aberwitzige Situation eingeweiht. Beide leben in einer gut funktionierenden Beziehung. Thomas nimmt sie ernst, vertraut ihr und will helfen dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Das Paar hält zusammen und versucht das gemeinsame Leben irgendwie fortzuführen, was zunächst auch überraschend gut funktioniert.

Trotzdem kann sich aber nur Tara an jedem nächste Tag noch an die Vorgängerversionen erinnern. Täglich muss sie Thomas deshalb immer wieder aufs Neue zunächst ihre Situation erklären. Erst danach können sie beginnen, das Beste aus den bestehenden Umständen zu machen.

Mit der Zeit erweist sich das jedoch als immer schwieriger. Taras Leben schreitet voran. Für sie läuft die Zeit weiter, obwohl sie immer nur ein und denselben Tag erlebt. Thomas hingegen hat daran keinerlei Anteil mehr. Er erlebt jeden 18. November als den ersten. Er entwickelt sich nicht. Aus Taras Perspektive steht er auf der Stelle und bleibt zurück.

„Thomas war den Gesetzen des Vergessens unterworfen, ich speicherte viel zu viele Tage im Gedächtnis. Thomas war in der Ewigkeit gefangen, und ich bewegte mich langsam aber sicher auf mein Grab zu.“

Tara entfernt sich mit der Zeit nicht nur emotional immer mehr von Thomas. Nach einigen Monaten zieht sie unbemerkt in das Gästezimmer und lässt Thomas in dem Glauben, sie wäre immer noch in Paris. Er weiß und bemerkt gar nicht mehr, dass Tara sich auch im Haus aufhält. Tara lebt ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Eine immer einsamer werdende Beobachterin. Ein Gespenst. Einige 18. November später geht sie ganz und verlässt das gemeinsame Heim.

„Aber vielleicht sind wir beide Gespenster, denke ich dann. Hoffnungsvoll. Vielleicht ist alles nur eine Halluzination. Ich bin ein Gespenst, das glaubt es sei ein Monster. Thomas ist ein Gespenst, das glaubt es sei ein Mensch. Wir sind vom gleichen Schlage. Denke ich wieder. Hoffnungsvoll. Wir leben in einer Welt von Gespenstern.“

Die temporale Anomalie ist in „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ lediglich Mittel zum Zweck. Das Brennglas liegt weniger auf dem temporalen Rätsel als vielmehr auf Taras innerer Verfassung und ihren Beziehungen zur Außenwelt, insbesondere zu ihrem Partner Thomas. Virtuos und scheinbar so ganz nebenbei werden hier existenzielle Fragen zum Kern und Funktionieren menschlicher Beziehungen aufgeworfen. Leben wir tatsächlich in ein und derselben Realität? Was ist das Verbindende zwischen zwei Menschen?

„Über die Berechnung des Rauminhalts I“ ist daneben auch ein Roman über Erinnerung und das Vergessen. Thomas und Taras Situation eröffnet für mich erstaunliche Parallelen zu Beziehungen, bei denen ein Teil an einer Demenzerkrankung leidet.

Auf jeden Fall hat Solvej Balle eine große und traurige Liebesgeschichte geschrieben. Ein Paar, das sich einander sehr nahe fühlt, entwickelt sich auseinander. Für einen Teil in einem quälenden, schleichenden Entwicklungs- oder vielleicht auch Emanzipationsprozess, für den anderen überhaupt gar nicht wahrnehmbar. Der ganze Roman ist meisterhaft erzählt.

„Ich sage nicht, ich hätte die Hoffnung verloren. Sie kommt nur nicht mehr so oft vorbei. Sie ist weggezogen.“

 „Über die Berechnung des Rauminhalts I“ ist ein schillernder, poetischer, ungeheuer vielschichtiger Roman. So komplett gelungen wurden temporale Anomalien und großartige Literatur bisher nie miteinander verbunden. Faszinierend, außergewöhnlich.

Und doch ist es erst ein Anfang. Taras Geschichte wird weitergehen. Ganze sechs Bände sollen noch folgen. Man darf sehr gespannt sein.

Werbung, weil kostenfreies Rezensionsexemplar

    • Solvej Balle, Über die Berechnung des Rauminhalts I
    • Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
    • OA: „Om udregning af rumfang I“, 2020
    • Hardcover, 170 Seiten
    • MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, 2023
    • ISBN 978-3-7518-0912-2
    • Preis: 22 €
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