Belletristik

Joachim B. Schmidt, „In Küstennähe“

„In Küstennähe“ ist der Debütroman des 1981 im schweizerischen Casis/Graubünden geborenen Joachim B. Schmidt. Früh war der Autor vom Inselstaat Island fasziniert. Schon zum Schulabschluss hatte er Gelegenheit, die Insel im äußersten Nordwesten Europas zu bereisen. Während weiterer Aufenthalte verliebte er sich vollends in das Land und machte es zu seiner Wahlheimat. Joachim B. Schmidt hat die isländische Staatsangerhörigkeit angenommen und lebt als Autor in Reykjavik.

Besonders bekannt wurde der Autor durch seinen vierten Roman „Kalmann“, der im Jahr 2020 erschienen ist und hier auf dem Blog bereits ausführlich vorgestellt wurde. Die im Norden Islands angesiedelte, wunderbar menschliche Kriminalgeschichte um den Außenseiter Kalmann, den sehr speziellen selbsternannten „Sheriff von Raufarhöfn“, war zu Recht äußerst erfolgreich und wurde von der Kritik durchgängig positiv aufgenommen. Vor diesem Hintergrund ist im September des letzten Jahres jetzt auch Joachim B. Schmidts Debütroman „In Küstennähe“ aus dem Jahr 2013 beim Diogenes Verlag als Taschenbuch neu erschienen. Der durchaus interessante Roman weist zahlreiche Parallelen zum späteren „Kalmann“ auf, kann dessen große Qualität aber letztendlich noch nicht erreichen.

„In Küstennähe“ ist ebenfalls ganz im Norden Islands angesiedelt und schon hier, bei Schmidts Erstlingswerk, handelt es sich um eine Geschichte, die sich auf die am Rande der isländischen Gesellschaft stehenden Menschen konzentriert.

An der Nordküste Islands, im Altenheim in Isafjördur, liegt der alte verschlossene Grímur einsam auf seinem Zimmer. Er ist bettlägerig und nur noch schwer ansprechbar. Ein Pflegefall am Abend seines Lebens, ohne Angehörige oder Freunde. Grímur hat den furchtbaren Spitznamen „der Schlächter“. Düstere Geschichten sind über ihn im Umlauf. Er habe in einem inzestuösen Verhältnis mit seiner Halbschwester gelebt und diese später dann auf dem Meer ertränkt. Grímur stammt aus einer unterprivilegierten Familie. Als uneheliches Kind aus einfachsten Verhältnissen stammend, war er sein Leben lang ein Ausgestoßener. Im Altenheim in Isafjördur vegetiert er nur noch vor sich hin, dem nahenden Tod entgegen.

Lárus dagegen ist erst Anfang 20 und in genau diesem Altenheim als ungelernter Gehilfe des Hausmeisters beschäftigt. Aus einer bürgerlichen isländischen Familie stammend, weiß er nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Langeweile, Partys, Pornos, Alkohol, Computerspiele. Ein ambitionsloser, nicht unfreundlicher junger Mann, der regelmäßig noch bei den Eltern am Tisch sitzt. Taugenichts, Schlitzohr, Großmaul. Es ist nicht einfach, den jungen Mann einzuordnen.

Lárus dealt mit Drogen, und zwar in einem ganz beträchtlichen Ausmaß. Seine Anstellung im Altenheim, in dem er auch das ein oder andere Contalgin-Pflaster mitgehen lässt, dient hauptsächlich der Tarnung. Seinen eigentlichen Lebensunterhalt verdient er mit Drogengeschäften. Er ist der Dealer der Region und weitaus mehr in diese dunklen Geschäfte verstrickt, als er es sich selbst zugesteht. Wie Grímur ist auch Lárus ein Außenseiter. Seine Drogengeschäfte machen ihn dazu. Sie stehen wirklichen Freundschaften und Bindungen im Weg.

„So war ich. Ich konnte lügen, ohne mit der Wimper zu zucken, konnte Mitgefühl und Anteilnahme heucheln, mich anbiedern oder auch still sein, wenn es die Situation verlange. Ich war ein Chamäleon, ein Verkäufer – oder einfach nur Schlitzohr. Nur mit echten Gefühlen ging ich sparsam um.“

Die beiden so verschiedenen Männer verbindet eine gemeinsame Vergangenheit. Als Lárus in Grímurs Zimmer einen Heizkörper reparieren soll, trifft er in dem alten Mann auf die Schreckgestalt seiner Kinderzeit, den „Schlächter“. Ziel unzähliger böser, herabwürdigender „Kinderstreiche“ und Mutproben. Der alte Grímur wiederum erkennt in Lárus den schlimmsten seiner ehemaligen Peiniger.

Diese Ausgangskonstellation des Romans ist zwar nicht ganz neu, aber wirklich sehr interessant. Zwei Charaktere, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, prallen völlig unversehens aufeinander und beginnen sich zu umkreisen. Ohne eine Laune des Schicksals hätten sie sich nie auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt, aber irgendwie scheint ein unsichtbares Band sie zu verbinden. Beide stehen auf ihre Art am Rande der Gesellschaft und in ihrem Leben an einem Scheideweg.

Es ist wirklich spannend und unterhaltsam zu verfolgen, wie sich Grímur und Lárus näherkommen. Lárus findet immer neue Vorwände, sich in Grímurs Nähe aufzuhalten. Und tatsächlich scheint der alte, schweigsame Mann in seiner Anwesenheit aufzutauen. Langsam beginnen sie einander zu vertrauen. Eine komplizierte Freundschaft entwickelt sich. Grímur scheint etwas im Schilde zu führen und Lárus versucht währenddessen, dem dunklen Geheimnis des „Schlächters“ auf den Grund kommen.

Die Annäherung der beiden so unterschiedlichen Außenseiter ist ganz eindeutig die besondere Stärke des Romans. Bei aller Fehlbarkeit der beiden Protagonisten, versieht Jochen B. Schmidt die beiden Männer, mit einer großen Portion Menschlichkeit. Überhaupt zeichnet dieser sehr dem Menschen zugewandte, verständnisvolle Blick den Autor aus.

Die banale, deshalb aber keinesfalls unwesentliche Frage, ob es die Umstände sind, die den Menschen zu dem machen, der er ist, steht im Zentrum des Romans. Haben wir trotz aller Widrigkeiten des Lebens die Möglichkeit, auf unser Schicksal Einfluss zu nehmen, es gar zu bestimmen? Ist es dafür irgendwann zu spät? Beim alten Grímur stellt sich diese Frage aus der Perspektive ganz vom Ende eines gelebten langen Lebens. Beim jungen Lárus ist es die Perspektive der Jugend, in der die Zukunft noch offen liegt.

„Wolltest du nie weglaufen?“, fragte ich ihn. „Doch“, sagte er. „Und wieso bist du nicht?“ „Meine Mutter. Sie hatte nur mich.“ „Manchmal möchte ich auch einfach weg von hier.“ Grímur betrachtete mich. „Vielleicht solltest du das“, sagte er. „Du bist noch jung.“

Die Zuspitzung des Romans auf die Frage der Selbstbestimmung ist sehr gelungen. Ganz besonders im Falle des alten Grímurs, dessen hartes isländisches Leben eindrucksvoll, relevant und bewegend, durch immer wieder gekonnt eingestreute Rückblenden, erzählt wird. Beim jungen Lárus funktioniert das hingegen weit weniger gut. Lárus, der im Zentrum der gegenwärtigen Handlung steht, wird als eine Art sympathischer Taugenichts geschildert. Vom Weg abgekommen, aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Diese Positionierung ist einfach nicht schlüssig. So nett und charmant das alles zu lesen ist, handelt es sich bei Lárus ganz offensichtlich um einen Schwerkriminellen, der tief verstrickt ist in die organisierte Kriminalität. Man kann der Figur die sie umgebene jugendliche Naivität und Harmlosigkeit einfach nicht abnehmen. Das ist alles zu nett, zu arglos, zu flach. Gerade im Kontrast zu der Tiefe, die Grímurs Charakter mitgegeben wurde, tappt Jochen B. Schmidt bei Lárus etwas in die Klischee-Falle.

Das gilt leider auch für den Schluss des Romans. Eigentlich laufen Handlung und Entwicklung der Protagonisten ganz wunderbar auf einen, den großen Themen von Schicksal und Schuld angemessenen, Höhepunkt hinaus. Statt dann aber auf Seite 316, nach einem herrlich gelungenen dramatischen Finale, einfach Schluss zu machen, gönnt Joachim B. Schmidt seinem Roman noch 18 zusätzliche Seiten für ein überflüssiges „Wohlfühl-Ende“. Da werden noch ein paar kleine offene Handlungsstränge zusammengeführt, ein netter belangloser Spin eingebaut und dem Roman ein dickes, zuckriges „Happy End“ verpasst. Diese völlig unnötigen letzten Seiten bilden einen Fremdkörper in einer ansonsten tiefschürfenden, berührenden Geschichte.

„In Küstennähe“ bleibt ein bewegend menschlicher, vielschichtiger Roman über die Begegnung zweier Menschen, die ganz am Anfang und ganz am Ende eines Lebens stehen. Eine Geschichte über Selbstbestimmung und zu guter Letzt auch über Schuld und Vergebung. Leider in Teilen etwas zu harmlos und am Schluss 18 Seiten zu lang geraten.

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    • Joachim B. Schmidt, In Küstennähe
    • Taschenbuch, 334 Seiten
    • Diogenes Verlag AG, Zürich, 2022
    • Erstausgabe, 2013
    • ISBN 978-3-257-24666-7
    • Preis: 14 €
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