Science-Fiction

Hervè Le Tellier „Die Anomalie“

Mit „Die Anomalie“ ist dem französischen Schriftsteller und studierten Mathematiker Hervè Le Tellier ein beeindruckender Roman gelungen, der völlig zu Recht mit dem bedeutenden französischen Literaturpreis Prix Goncourt ausgezeichnet wurde.

Die am 10. März 2021 in Paris gestartete Boing 787, Flug Air France 006, wird kurz vor der Landung am JFK Airport New York von Jagdflugzeugen abgefangen und auf die McGuiere Air Force Base, New Jersey umgeleitet. An Bord befinden sich 243 Passagiere samt Besatzung. Bis auf eine extreme Gewitterfront, die überraschend schnell durchflogen werden konnte, war der Flug eigentlich problemlos verlaufen.

Sämtliche Teilnehmer des Flugs 006 werden zunächst auf dem Militärflughafen festgehalten, psychologisch betreut und eingehend zum Flug und ihrer Vergangenheit befragt. Sie müssen erfahren, dass seit ihrem Start am 10. März 2021 in Paris mehr als drei Monate vergangen sind und das Datum ihrer Landung der 24. Juni 2021 ist. Als wäre das nicht schon genug wird ihnen auch eröffnet, der Flug 006 Paris-New York, sei drei Monate zuvor am 10. März 2021 schon einmal planmäßig auf dem JFK Airport New York gelandet. Die Maschine und jede an Bord befindliche Person existiere jetzt also zweifach. Alles exakte Doppelgänger, die bis auf eine Erinnerungslücke für die letzten drei Monate, nicht voneinander zu unterscheiden sind.

Dies ist die faszinierende Ausgangskonstellation des Romans. Die Suche nach den Ursachen der Anomalie führt schnell zu äußerst interessanten physikalischen, logischen und philosophischen Fragestellungen. Könnte ein Wurmloch die Ursache der Anomalie sein? Existiert die Menschheit vielleicht nur in einer gigantischen Simulation und handelt es sich bei der Anomalie um einen Fehler in der Matrix? Wenn es ein Fehler ist, warum wurde er nicht sofort wieder korrigiert und überschrieben? Könnte die Anomalie ein beabsichtigter Hinweis sein, ein bewusst übermittelter Beweis für die Existenz einer perfekten Simulation unserer Realität? Und wenn ja, von wem könnte dieser Beweis stammen? Von einer überlegenen Technologie? Von Gott?

Für Freunde /-innen von Gedankenexperimenten, Science-Fiction und Philosophie sind Fragestellungen dieser Art natürlich keinesfalls neu. Das moderne Beweisbarkeitsparadoxon der Retortengehirne ist eine bekanntes Logikrätsel des vergangenen Jahrhunderts. Aber schon im vierten Jahrhundert vor Christus wurden Fragen dieser Art durch den chinesischen Philosophen Zhuangzi und dann später auch von Descartes aufgeworfen. Sie machten sich Gedanken darüber, ob der Mensch Traum und Realität überhaupt sicher voneinander unterscheiden könne. Seit jeher eine der ganz großen Fragen.

Den meisten SF-Fans ist die Möglichkeit, in einer nahezu perfekten Illusion zu leben, zudem aus der Filmreihe „Matrix“ bestens geläufig und Star Trek-Nerds sind mit den faszinierenden Illusionen von Holodecks und mobilen holographischen Emittern bestens vertraut.

Hervè Le Tellier ist mit „Die Anomalie“ das Kunststück gelungen, diese sehr spezielle technisch-philosophische Thematik, in einer spannenden und äußerst gut erzählten Romanhandlung literarisch überzeugend zu verarbeiten.

Zu Beginn des Romans werden die Geschichten der Insassen des Flugs AF-006 Paris-New York erzählt. Ein versierter professioneller Auftragskiller, ein an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankter Pilot, ein depressiver Schriftsteller, eine erfolgreiche junge Anwältin, eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter, eine Schauspielerin, ein afrikanischer Rap-Musiker. Alle vereint die Tatsache, aus ihren völlig unterschiedlichen Lebensumständen heraus am 10. März 2021 Insassen des Flugs AF-006 geworden zu sein und jetzt seit dem 24. Juni 2021 jeweils zweimal zu existieren.

Der Mittelteil des Romans ist dagegen ganz der Untersuchung und Aufklärung der Anomalie, sowie der Befragung und Konfrontation der Beteiligten mit ihrer besonderen Situation gewidmet.

Im letzten Drittel des Romans stehen dann wieder die Schicksale der einzelnen Flugzeuginsassen im Vordergrund. Präzise und mit einem enormen Einfühlungsvermögen setzt sich Herve Le Tellier hier mit den psychologischen und ethischen Konsequenzen der Verdopplung für die unmittelbar Betroffenen auseinander.

Dieser letzte Teil ist für mich ganz eindeutig auch der stärkste und innovativste Teil des Romans. Wie gehen unterschiedlich Menschen mit der Gewissheit um, dass eine identische zweite Ausführung von ihnen existiert, die all ihre Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen aufweist? Wie reagieren sie darauf, dass dieses zweite „Ich“ dieselben Ansprüche auf Eigentum, Lebenswerk und Vertrautheit zu Angehörigen und Freunden hat? Wie fühlt und reagiert ein Kind, das plötzlich seine zweite Mutter trifft und welche rechtlichen und vor allem emotionalen Folgen ergeben sich aus diesem Umstand? Le Tellier zeichnet mit großem Respekt für seine Charaktere die Versuche nach, sich mit ihrer aberwitzigen Situation auseinanderzusetzen und den Weg in eine neue Zukunft zu finden. Sehr geschickt hat er zu Beginn des Romans für seine Protagonisten verschiedene Lebenswege und Lebenssituationen arrangiert, die jetzt im letzten Teil völlig unterschiedliche Gefühlswelten und Reaktionen zur Folge haben. Alles wurde konsequent und überzeugend zu Ende gedacht. Ungeheuer eindrucksvoll und interessant.

Le Tellier ist ein versierter Autor, der sein Handwerk versteht. Die Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen existenziellen Fragen ist äußerst interessant, spannend und wird mit einer hohen literarischen Qualität umgesetzt. Dabei ist der Roman mit knapp 350 Seiten angenehm kompakt geblieben, was angesichts der Größe des Themas und Anzahl an Protagonisten keinesfalls selbstverständlich ist. Er ist deshalb gut lesbar und kurzweilig. Zudem konnte sich der Autor auch manche komische Anekdote nicht verkneifen, was den Roman angenehm erdet und manchen Lacher zur Folge hat.

„Die Anomalie“ ist ein komplexes intellektuelles Spiel eines hervorragenden Autors, das sich auf einem sprachlich und erzählerisch hohem Niveau gekonnt mit Fragen von Identität, Realität und Existenz auseinandersetzt. Obwohl ein Focus auf physikalischen, psychologischen und philosophischen Fragestellungen liegt, kommt der Roman leicht daher und es entsteht nie der Eindruck ein Sachbuch zu lesen. Die ergreifenden Schicksale und Innenwelten der Protagonisten stehen im Zentrum der Betrachtungen.

Ein außergewöhnlicher, wunderbarer, gelungener Roman.

 

Hervè Le Tellier, Die Anomalie

Übersetzt von Jürgen und Romy Ritte

Hardcover, 345 Seiten

Rohwohlt Verlag, Hamburg, 2021

ISBN 978-3-498-00258-9

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