Thriller

Amy McCulloch, „Der Aufstieg“

„In der Todeszone wartet der Mörder“. Mehr Thriller als in diesen Klappentext passt wohl kaum in einen sechs Worte langen Satz. Angemessen?

Zunächst geht der Roman der in Ottawa aufgewachsenen und jetzt in London lebenden Autorin Amy McCulloch erst einmal gemächlich los. Die junge, noch unerfahrene Journalistin Ceciliy Wong steht vor der großen Chance ihrer beruflichen Laufbahn. Ihr eröffnet sich die einmalige Gelegenheit, den berühmten und charismatischen Extrembergsteiger Charles McVeigh exklusiv zu interviewen. Dieser steht unmittelbar vor dem Abschluss seiner Rekordtour, der Besteigung sämtlicher 14 Achttausender innerhalb eines Jahres. Alles natürlich im alpinen Stil, was im Wesentlichen ohne Hilfsmittel und Sauerstoff bedeutet. Das Interview, für das Cecily beruflich und finanziell alles auf eine Karte gesetzt hat, wäre ihr ganz großer journalistischer Durchbruch. Einziges Problem bei der Angelegenheit: McVeigh will das Interview erst geben, wenn sie ihn selbst bei der Besteigung des letzten Achttausenders, dem Manaslu in Nepal, begleitet hat. Als einfache Hobbybergsteigerin hat Cecily größte Zweifel, ob sie dieser Unternehmung gewachsen ist. Das Abenteuer beginnt in einem Hotel in Kathmandu, wo die sehr unterschiedlichen Teilnehmer*innen der Expedition zusammenkommen, um sich kennenzulernen und die letzten Vorbereitungen zu treffen. Schon sehr bald, weit vor Aufbruch zum Basislager Nr. 1, ereignet sich der erste Todesfall. Cecily beschleicht der Verdacht, dass auch ein Mörder mit am Berg sein könnte.

„Der Aufstieg“ ist ein Thriller aus der Welt des extremen Höhenbergsteigens. Der unbarmherzigen Welt der Achttausender, des alpinen Extremsports, der Todeszone, aber gleichzeitig auch des kommerziellen touristischen Massen- bzw. Belagerungsalpinismus mit all seinen meist negativen Auswirkungen. Man merkt dem Roman in jedem Winkel an, dass hier eine Autorin am Werk ist, die weiß, worüber sie schreibt. Ich konnte es kaum glauben, aber Amy McCulloch hat den Manaslu im September 2019 selbst als jüngste Kanadierin bestiegen! Die Schilderungen der Qualen, Gefahren, Ängste und natürlich gerade auch der Technik des Aufstiegs weisen eine beeindruckende Authentizität auf, die nur mit den unmittelbaren Erfahrungen der Autorin erklärbar ist. Ganz nebenbei trägt der Thriller dadurch auch die Züge einer Dokumentation, was seiner realistischen Atmosphäre sehr zugute kommt.

Inhaltlich wird dem Roman von Rezensenten*innen vielfach vorgeworfen, dass er erst im letzten Drittel so richtig Fahrt aufnehme und insgesamt zu vorhersehbar sei. Diese Eindrücke kann ich allerdings überhaupt nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil, Amy McCulloch lässt den Spannungsbogen von Beginn an ganz allmählich, aber gekonnt ansteigen. Das nach und nach vorgestellte Personal des Romans ist durchweg  interessant und mit genügend Motiven ausgestattet, um die Spannung bis zum großen Finale in der Todeszone gut zu halten. Noch dazu handelt es sich bei dem Thriller um einen „Whodunnit“, was Spannung bis zum Schluss garantiert.

Der Roman ist routiniert und gekonnt erzählt. Auch sprachlich gibt es, nicht zuletzt dank der gelungenen Übersetzung aus dem Englischen von Leena Flegler, nichts auszusetzen.

Auch wenn hier das Rad nicht neu erfunden wird ist „Der Aufstieg“ ein rundum gelungener, eiskalter Thriller aus der Todeszone. Wer sich nur ein bisschen für das Bergsteigen interessiert, wird an diesem Buch große Freude haben. Auch ich, der ich nie über den Rodelhang hinausgekommen bin, kann nach der Lektüre sagen: „Ich bin am Manaslu dabei gewesen!“

      • Amy McCulloch, Der Aufstieg
      • Übersetzt aus dem Englischen von Leena Flegler
      • OA: „Breathless“ 2022
      • TB, 495 Seiten
      • Pieper Verlag GmbH, München, 2022
      • ISBN 978-3-492-06343-2
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