Computer/Gaming,  Thriller

Anthony McCarten, „Going Zero“

Von diesem Roman hatte ich mehr erwartet.

 

Eigentlich ein großartiges Spielfeld für einen großen Roman

Um Anthony McCartens aktuellen Roman „Going Zero“ ist seit seiner deutschen Veröffentlichung im April ein regelrechter Hype entstanden. Negative Rezension sind eigentlich nicht zu finden und tatsächlich ist der Hintergrund des Romans, angesichts der sich in der Online-Welt rasant ausweitenden Möglichkeiten zur Verknüpfung höchstpersönlicher Daten, äußerst aktuell und von erheblicher Bedeutung. Was geschieht mit den gigantischen Mengen sensibler Daten, die wir tagtäglich ins Netz blasen? Wer sammelt sie, kann über sie verfügen und wie werden sie genutzt? Welche Gefahren bestehen, wenn wir uns völlig gläsern machen? Kann eine totale Überwachung gerechtfertigt sein, wenn im Gegenzug schwere Straftaten verhindert werden und wenn ja, wer überwacht die Überwacher? Wäre so ein Vorgehen in einem freiheitlichen, demokratischen Staatswesen überhaupt zulässig? – Eigentlich ein großartiges Spielfeld für einen großen Roman.

 

Ein Multimilliardär versucht mit den US-Geheimdiensten ins Geschäft zu kommen

Auch die Ausgangskonstellation von „Going Zero“ ist sehr gelungen. Der Multimilliardär Cy Baxter versucht mit den US-Geheimdiensten ins Geschäft zu kommen und bietet ihnen die geballte Macht seines gigantischen Internet-Medien-Konzerns World Share an. Mit dem Projekt „Fusion“ soll künftig eine Kooperation zwischen World Share und den Geheimdiensten entstehen, durch die schwere Verbrechen mittels totaler Überwachung verhindert werden sollen. Lediglich ein letzter entscheidender Betatest steht dem Abschluss des Projekts noch im Weg. Zum Beweis der Allmacht von Baxters Überwachungstechnik, wurden zehn Personen ausgewählt, deren einzige Aufgabe es ist, für 30 Tage „unter dem Radar“ zu bleiben und sich den Zugriffsteams von Fusion zu entziehen. Als Belohnung winken den zehn Teilnehmer*innen im Erfolgsfall jeweils 3 Millionen Dollar. Fünf „ganz normale“ Menschen und fünf ausgewiesene Online-Security-Profis wurden für diesen letzten Probelauf des Systems ausgewählt. Ein Rennen gegen die Zeit und vor allem gegen die Allmacht der modernen Überwachungstechnologien. Für Cy Baxters Fusion geht es um Milliarden. Er setzt alles daran, die Untergetauchten zu aufzuspüren. Ein dramatischer Wettlauf quer durch die Vereinigten Staaten beginnt.

Ein großartiges Szenario für einen spannenden Tech-Thriller. Eigentlich eine geschickte Konstellation, um rasante Spannung zu erzeugen und gleichzeitig die vielen unterschiedlichen technischen, ethischen und rechtlichen Aspekte der Online-Überwachung auszuloten. Ganz nach meinem Geschmack. Als besonders gelungene Pointe ist es eine einfache Bibliothekarin, die Nr. 10 der Kandidat*innen, die den gigantischen Überwachungsapparat von Fusion an seine Grenzen bringt. Kaitlyn Day hat ihr analoges Leben eigentlich den Büchern verschrieben. Aus diesem Grund nimmt Cy Baxter sie zunächst auch nicht so richtig ernst. Doch als sie sich immer wieder überraschend findig den ausgeklügelten Überwachungstechniken entzieht, beginnt er in Ihr seine eigentliche Gegnerin zu erkennen.

 

Mehr Action-Film als Roman

Die Struktur des Romans ist überaus einfach. Die vollkommen linear erzählte Handlung läuft als Countdown eines 30-Tage-Timers ab. Jedes Kapitel ist dabei mit der aktuellen Restzeit bis zur „Stunde 0“ überschrieben. „Going Zero“. Auf größere Rückblenden oder Verschachtelungen hat Anthony McCarten zudem komplett verzichtet. Die Geschichte wird vollkommen gradlinig heruntererzählt. Nicht zuletzt wegen der knackig kurzen Kapitel und der, grundsätzlich zwar sperrigen, hier aber sehr gut eingesetzten Erzählzeit Präsens, nimmt die Handlung schnell ein ganz beachtliches Tempo auf. Das funktioniert und passt ideal zu dieser Art Thriller. Dazu gelegentliche, schön gemachte Cliffhanger und schnelle Schnitte. Ganz klar, der Autor versteht sein Handwerk. McCartens Art zu Erzählen gleicht im Grunde jedoch mehr einem Actionfilm, denn einem Roman. Da ist es wenig überraschend, dass ein näherer Blick auf seine Vita ihn nicht nur als Autor zahlreicher Theaterstücke und Romane, sondern eben auch als überaus erfolgreichen Drehbuchschreiber und Filmproduzenten ausweist, der bereits zwei Mal für einen Oscar nominiert war.

Tatsächlich erinnert mich der Roman, in seinem schnellen, bildhaften Schnittsequenzen, extrem an das Drehbuch eines Actionfilms. Einfach gestrickt, schnell, bildgewaltig, actionorientiert. Das muss für einen Thriller keinesfalls von Nachteil sein. Leider bleiben die Charaktere des Romans dabei allerdings völlig auf der Strecke. Nebenfiguren werden nicht einmal in Ansätzen näher ausgearbeitet. Um in der Filmsprache zu bleiben sind sie lediglich „Komparsen“, die kurz auftauchen, ihren Satz sagen, um dann nach ein, zwei Seiten, sofort wieder in der Versenkung zu verschwinden. Die wenigen Hauptfiguren wie zum Beispiel Cy Baxter, seine Partnerin Erika Coogan und Kaitlyn Day, sind zudem eindimensional, ja geradezu holzschnittartig geraten. Ohne größere Graubereiche aufzuweisen, agieren sie völlig vorhersehbar. Der von sich berauschte, wahnhafte Multimilliardär; die ihm verfallene, aber rechtschaffende Geschäftspartnerin; die bescheidene, gute Bibliothekarin; das ist nicht besonders originell. Dazu die obligatorischen Verfolgungsjagden, Hubschrauber, natürlich FBI und CIA, ein netter Plot-Twist und ein mit Schießereien garnierte dramatische Finale. Wieder einmal klappt in einem Roman die Klischee-Falle zu. Actionkino. Als unterhaltsamer Thriller bzw. Spannungsroman geht das grundsätzlich auch in Ordnung.

 

Alles schon mal so gesehen

Allerdings hat Anthony McCarten als Hintergrund für seinen Action-Thriller ein überaus aktuelles, technisch und ethisch herausforderndes, gesellschaftlich relevantes Thema gewählt, dem der Roman einfach nicht gerecht wird.

Die in „Going Zero“ geschilderten Überwachungsmöglichkeiten können im Jahre 2023 doch niemanden mehr ernsthaft überraschen. Ohne hier zu viel zu spoilern, kann ich sagen, dass die Allgegenwärtigkeit von Kameras im öffentlichen Bereich, die Verknüpfung persönlicher Daten aus Online-Profilen, die Möglichkeiten moderner Drohnenüberwachung, die Auswertung biometrischer Daten (Gesichtserkennung, Gangprofil, usw), die Gefahren einer Raumüberwachung durch Laptop- und TV-Gerätekameras oder die Onlineverfolgung von Kontobewegungen, nun wirklich kalter Kaffee sind. Dass hier dem Missbrauch durch staatliche und private Stellen Tür und Tor geöffnet ist, ist heute doch (glücklicherweise) bereits den Grundschülern bekannt. Alles schon in unzähligen Filmen und Romanen so gesehen. Ich möchte hier als Beispiel nur auf die schon in den Jahren 2011 bis 2016 ausgestrahlte TV-Action-Serie „Person of Interest“ verweisen, die sich diesen Thematiken ganz umfassend und weitaus tiefgreifender angenommen hat. Selbst die in „Going Zero“ besonders hervorgehobenen virtuellen Besuche Cy Baxters in entfernten Wohnungen sind doch im Jahr 2023  keine Sensation mehr, sondern für den privaten Gebrauch als AR-/VR Brille bereits im Handel erhältlich.

 

In der Analyse bleibt der Roman an der Oberfläche

Ich hatte einfach erwartet, dass Anthony McCarten in seinem frisch veröffentlichten Roman mehr zu bieten hat. Stattdessen entzieht sich der Autor im Ernstfall immer wieder der vertiefenden Analyse, indem er seine Figuren die Lösung eines Problems einfach unter dem Hinweis auf die Macht der Algorithmen aus dem Hut zaubern lässt. Tatsächlich fangen die interessanten Fragestellungen unserer Zeit für mich jedoch an diesen Stellen immer erst an:  Was sind das denn für Algorithmen, die mehr und mehr beginnen unseren Alltag und unser Schicksal zu bestimmen? Wie arbeiten sie? Wer schreibt Sie? Ist ihr Quellcode öffentlich oder ein verschlossenes Betriebsgeheimnis? Was ist mit der höchst aktuellen Problematik verdeckter Diskriminierung durch Algorithmen? Wie lassen sie sich demokratisch kontrollieren? Wer kontrolliert die Kontrolleure? Welche ethischen Fragestellungen ergeben sich bei der Abgabe von Recherchen an eine KI? – Der Roman hat nichts zu diesen Fragen zu sagen. Überhaupt übersieht er das brisante Thema der künstlichen Intelligenz beinahe vollständig. Für einen Tech-Thriller des Jahres 2023 mit dem Hintergrund Überwachung im Netz ist das für mich einfach zu wenig.

 

Was bleibt

Was bleibt ist ein handwerklich gut gemachter, aber konventioneller Action-Tech-Thriller. Sicherlich ein Pageturner, der gut unterhalten kann und Thriller-Spannung bis zum Ende liefert. Zu dem großen aktuellen Thema „Überwachung im Netz“ kann er jedoch keine neuen oder vertiefenden Perspektiven bieten.

  • Anthony McCarten, Going Zero
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele-Kempf-Allié
  • OA: „Going Zero“, 2023
  • Hardcover, 454 Seiten
  • Diogenes Verlag AG Zürich, 2023
  • ISBN 978-3-257-07192-4
  • Preis: 25 €
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