Christoffer Carlsson „Unter dem Sturm“
Als ich die Hardcover-Ausgabe von Christoffer Carlssons „Unter dem Sturm“ erstmals in den Händen hielt verstärkte sich mein Eindruck, dass es sich hier um einen ganz besonderes Stück Kriminalliteratur handeln könnte. Ganz entgegen der in diesem Genre heute üblichen reißerischen Einbandgestaltungen mit ihren oft beliebigen, völlig austauschbaren Motiven und Titeln, ist der Umschlag des Buchs mit dem wunderbaren, idyllischen Foto einer herbstlichen skandinavischen Waldlandschaft versehen. Geschickt wurde dazu der Titel des Romans „Unter dem Sturm“ knapp über die Baumkronen versetzt. Zusammen mit den Bäumen duckt er sich unter einen, die gesamte obere Hälfte des Bildes einnehmenden, wolkenverhangenen Himmel. Eine Idylle kurz vor dem heraufziehenden Sturm. Wenn ich jetzt noch sage, dass dieses Bild auch einen unmittelbaren Bezug zur Handlung des Romans aufweist, wird vielleicht klar, warum ich bereits von der äußeren Gestaltung des Buchs begeistert bin. Hier darf mehr erwartet werden, als ein einfacher Krimi. Wie auf dem Umschlag treffend erwähnt, ein „Kriminalroman“!
Eine Novembernacht in Südschweden des Jahres 1994. In dem kleinen Provinzdorf Marbäck steht ein Hof in Flammen. Die junge Louvisa wird darin ermordet aufgefunden. Als der Polizeiassistent Vidar Jörgensson am Brandort eintrifft, stolpert er über Edvard Christensson, Louvisas Freund, der bekannt ist für seinen aufbrausenden Charakter. Alles scheint zu passen. Seit Generationen gelten die Männer der Familie Christensson als gewalttätig, impulsiv und verschlagen. Schnell konzentrieren sich die Ermittlungen auf den tatverdächtigen Edvard. Er wird verhaftet und wegen Mordes verurteilt.
Doch Edvard hat auch eine andere, eine friedliche Seite. Zu seinem siebenjährigen Neffen Isak besteht ein sehr enges und positives Verhältnis. Für ihn ist Edvard die wichtigste Bezugsperson und beide verbringen eine gute Zeit miteinander. Als Edvard verhaftet wird bricht für Isak eine Welt zusammen. Bereits mit seinen sieben Jahren erahnt er die Gerüchte um seine Familie. Ist der vergötterte Onkel tatsächlich ein Mörder? Gibt es in seiner Familie eine Veranlagung zur Gewalttätigkeit? Könnte er diese geerbt haben? Steckt das Böse auch in ihm? Für die Einwohner des Dorfes ist die Sache schnell entschieden. Alles passt und man hat es ja immer schon gewusst. Die Familie wird zunehmend ausgegrenzt und an den Rand gedrängt. Isaks Welt beginnt zu zerbrechen. Der völlig verunsicherte Junge verändert sich und sein Leben gerät aus der Bahn.
Auch der Polizist Vidar kann die Ereignisse nicht hinter sich lassen. Mit den Jahren mehren sich seine Zweifel, ob Edvard Christensson tatsächlich der Täter ist. Schon zur Tatzeit im November 1994 passten einige Puzzleteile nicht richtig zusammen. Offenbar ist es zu Ermittlungspannen gekommen. Hat er dazu beigetragen, dass ein Unschuldiger verurteilt wurde? Was ist in der Brandnacht wirklich geschehen? Schwer lastet die allgegenwärtige Ungewissheit auf seinem Gewissen und beginnt auch sein Leben zu zerstören.
Ich bin hocherfreut. Endlich mal wieder der Plot eines Kriminalromans ohne Psychopathen, Serienmörder und expliziten Tötungs- bzw. Folterszenen. Christoffer Carlsson richtet seinen ruhigen Blick stattdessen auf die Menschen, die von den Ereignissen um die Brandnacht betroffen werden. Bei einem Gewaltverbrechen gibt es viele Opfer. Viele Betroffene, die mit den Folgen der Tat leben müssen, deren Leben nach der Tat plötzlich ein anderes ist. Wie gehen sie um, mit ihren offenen Fragen, ihren Schuldgefühlen, ihren Ängsten? Bemerkenswert einfühlsam, ohne jede Effekthascherei nähert sich Christoffer Carlsson diesen ganz grundsätzlichen Fragestellungen und erzählt die Geschichte und Folgen des Verbrechens aus der Sicht der Betroffenen.
Wirft man einen näheren Blick auf seine Vita, verwundert es nicht, dass hier ein Autor souverän mit den Ursprüngen und Folgen eines Gewaltverbrechens umgehen kann. Christoffer Carlsson (*1986 in Halsmstadt/Schweden) ist Kriminologe und blickt im Alter von gerade einmal 35 Jahren bereits auf eine beachtliche akademische Laufbahn zurück. Der Schwerpunkt seiner Dissertation und weiterer wissenschaftlicher Arbeiten galt der sogenannten „Entwicklungskriminologie“, einer Forschungsrichtung, die die Stabilität und den Wandel in den Lebensläufen von Straftätern untersucht. 2013 wurde er mit dem Young Criminologist Award der European Society of Criminology ausgezeichnet. Auch als Autor von Kriminalliteratur ist er bereits in jungen Jahren sehr erfolgreich. Für seinen Debütroman „Der Turm der toten Seelen“ erhielt er ebenfalls im Jahr 2013 als jüngster Preisträger den Schwedischen Krimipreis. „Unter dem Sturm“ ist sein fünfter Kriminalroman und war 2019 ebenfalls für diesen Preis nominiert.
Unaufgeregt und mit großem erzählerischem Geschick, führt uns Christoper Carlsson durch die schwedische Provinz. Über einen Zeitraum von knapp dreißig Jahren verfolgt er die Versuche des inhaftierten Edvards, seines Neffen Isaks und des Polizisten Vidar, Licht ins Dunkel der Ereignisse um den Mord an der jungen Louvisa zu bringen. Dabei werden wir unmittelbare Zeugen und Zeuginnen ihrer Nöte, Zweifel und Schuldgefühle. Ihrer Suche nach der Wahrheit und auch nach der eigenen Identität.
Ganz nebenher entsteht dabei das düstere Bild einer eigensinnigen, repressiven, bigotten Gesellschaft. Im Kontrast zu der wunderbar geschilderten weiten südschwedischen Landschaft, herrscht in den Dörfern und verstreuten Siedlungen eine seltsame Enge, Einsamkeit und Kälte unter den Einwohnern. Eine Atmosphäre von Misstrauen und gesellschaftlicher Kontrolle. Deutlich ist zu spüren, dass unter der Oberfläche die Emotionen brodeln.
Dabei verliert sich der Roman nie in Nebensächlichkeiten und bleibt vom Beginn bis zur Auflösung durchgängig spannend. Auch ohne die Verwendung krimineller Superlative oder Cliffhanger, allein durch die einfühlsam erzählten Schicksale der Beteiligten entsteht ein Sog, dem sich die Lesenden nicht entziehen können.
Christoffer Carlssons „Unter dem Sturm“ ist ein sensationeller, in allen Belangen gelungener Kriminalroman. Ein einfühlsames und kenntnisreich gezeichnetes Gesellschaftsbild, ganz in der Tradition Henning Mankells und der großen Maj Sjöwall/Per Wahlöö. Die Suche nach persönlicher Schuld und Identität und eine große Auseinandersetzung mit den Ursprüngen des Bösen in uns allen.
- Christoffer Carlsson, Unter dem Sturm
- Aus dem Schwedischen von Sussanne Dahmann
- OA: „Järtecken“, 2019
- Hardcover, 461 Seiten
- Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg, August 2021
- ISBN: 978-3-498-00160-5
- Preis: 22 €