Gesellschaftsroman

Hari Kunzru „White Tears“

Mit „White Tears“ des britischen Autors Hari Kunzru (*1969 in London) kann ich gleich am Jahresanfang einen sensationellen Roman vorstellen, der mich nicht nur begeistert, sondern auch tief bewegt hat. Ein Buch über den Ursprung des Blues, die New Yorker Musikszene, kulturelle Aneignung und den Rassismus in den Vereinigten Staaten.

Der Ich-Erzähler Seth und sein Freund Carter sind Klang- und Musik-Puristen. Allerdings ist es die Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Charaktere. Carter stammt aus reichen Verhältnissen und kann durch einen Treuhandfond über große finanzielle Ressourcen seiner Familie verfügen. Es ist „Old Money“. Ein Vermögen zunächst nicht näher bekannter Herkunft, dass sich bereits seit Generationen in der Familie befindet und deren Mitglieder nachhaltig geprägt hat. Wenn man den Klangspezialisten und Technik-Nerd Seth als den praktischen, digitalen Verstand der beiden bezeichnen würde, dann wäre Carter sicherlich das charismatische, kreative, immer suchende, aufgewühlte Herz. Mit großer Verachtung blickt besonders Carter auf gewöhnliche Musikfreunde, ja auf das gesamte moderne Musikbusiness herab. Nahezu besessen hat er sein Leben dem seiner Meinung nach wahren, unverfälschten Blues der Zwanziger- und Dreißigerjahre gewidmet. Man denkt unweigerlich: „Ausgerechnet dem Blues.“ Der Musik des Mississippi-Deltas im tiefen Süden der USA, der afroamerikanischen Bevölkerung, der Baumwollplantagen und des Leids unter brutalem Rassismus.

Ein Großteil Carters Energie ist auf den Ausbau und der Vervollständigung seiner Plattensammlung gerichtet. Diese Platten, zum Großteil Schellackplatten, sind allesamt äußerst seltene und teure Raritäten, die nur in einschlägigen hochspezialisierten Foren gehandelt werden. Nur sehr wenige Menschen auf der Welt, gehören dem elitären Kreis an, der sich auf diesem Gebiet bewegt und sich derartig wertvolle Raritäten leisten kann. Mit Carters Geld haben die beiden Freunde in New York auch eine eigene Firma gegründet, die auf die Produktion historisch klingender Musikstücke spezialisiert ist.

„Alles, was an Musik nach dem zweiten Weltkrieg erschienen war, spielte in seinem Leben keine Rolle mehr. Die elektrischen Gitarren und wilden Rhythmen der Vierziger- und Fünfzigerjahre waren Vorkriegsbluesaufnahmen gewichen, einzelne Gitarristen, die seltsame abstrakte Riffs spielten und dazu mit gebrochener, unverfälschter Stimme von Kummer und Verlust sangen.“

Der Ich-Erzähler Seth ist im Gegensatz zu Carter ein unsicherer, aus einfachen Verhältnissen stammender Außenseiter. Er ist der rationalere der beiden ungleichen Freunde. Seth verfügt über große technische Fähigkeiten und den digitalen Sachverstand, der für die Bearbeitung der Musikstücke erforderlich ist. Auch er ist ein Purist und liebt Klänge und Musik. Auch den Blues. Das hat er sich bei dem von ihm bewunderten Carter abgeschaut. Sein Zugang zur Musik ist allerdings theoretischer. Insbesondere der Ursprung und die Beschaffenheit der Töne und des Klanges an sich, sind für ihn von nahezu philosophischem Interesse.

„Guglielmo Macroni, der Erfinder der Funktechnik, war der Meinung, dass Schallwellen nie ganz verschwinden, dass sie zwar immer schwächer werden, aber bestehen bleiben, ohne dass man sie im Alltagslärm noch wahrnehmen kann. Macroni träumte davon, ein Mikrofon zu erfinden, das stark genug wäre, Klänge aus längst vergangenen Zeiten aufzuspüren. Die Bergpredigt, die Schritte römischer Soldaten auf der Via Appia.“

Der von Tönen und Klängen faszinierte Seth wandert in seiner Freizeit mit verstecktem Mikrofon durch die Stadt New York und zeichnet dabei die Klänge der Stadt und seiner Umgebung auf. Er will die Welt festhalten, sammeln und archivieren, um sie abspielen zu können wie er sie vorgefunden hat. Bei einem seiner Streifzüge nimmt er am Washington Square Park zufällig den Gesang der Zeile eines eindrucksvollen Bluessongs auf. Beim Abhören der Aufnahme sind Seth und Carter von der Originalität, Anmut und Authentizität des Fragments elektrisiert. Nach intensiver, professioneller Bearbeitung des Materials, dem Glätten der Linien, Herausfiltern der Hintergrundgeräusche, Anheben der Stimme usw., fördern sie aus den Tiefen der Aufnahme schließlich einen vollständigen, geheimnisvollen Blues-Gesang ans Tageslicht.

Believe I buy me a graveyard of my own, Believe I buy me a graveyard of my own, Put my enemies all down in the ground.

Put me under a man they call Captain Jack, Put me under a man they call Captain Jack, Wrote his name all down my back.

Went to the Captain with my hat in my hand, Went to the Captain with my hat in my hand, Said Captain have mercy on a long time man.

Well he look at me and he spit on the ground, He look at me and he spit on the ground, Says I`ll have mercy when I drive you down.

Don`t get mad at me woman if I kicks in my sleep. Don`t get mad at me woman if I kicks in my sleep, I may dream things cause your heart to weep.

Die unbekannten, mysteriösen Zeilen ziehen die beiden Bluesfanatiker in ihren Bann. Besonders Carter gehen sie nicht mehr aus dem Kopf. Um was für einen Song handelt es sich hier? Wer ist der Urheber? Warum findet man keine Aufnahme? Der von den Zeilen völlig besessene Carter kann an nichts anderes mehr denken. Heimlich legt er den Gesang über die Aufnahme der Gitarre eines Straßenmusikers und verwebt beides zu einem vollständigen Song. Mit ihrer hochspezialisierten Studio Technik gelingt es Seth schließlich, den authentisch wirkenden Eindruck des Klanges einer alten Schellackplatte zu erzeugen. Von einer historischen Aufnahme nicht mehr zu unterscheiden. Kurzentschlossen stellt Carter die Aufnahme als angeblich historischen „Charlie Shaw, Graveyard Blues – KG 25806“ ins Internet. Eine exzellente Fälschung. Mit dieser unbedachten Aktion weckt er, ohne es zu ahnen, mächtige Geister und Dämonen der Vergangenheit und setzt unwiderrufliche, schicksalhafte Ereignisse in Gang, die ihr beider Leben dramatisch verändern werden.

Vermag es ein einzelner Roman, den Bogen von Nick Hornby`s charmanten Plattensammlerroman „High Fidelity“ bis hin zu Joseph Conrads intensiven und furchterregenden Erzählung über die Reise in „Das Herz der Finsternis“ zu spannen? Ist es möglich, diese grundverschiedenen Werke erfolgreich in einem Roman zu vereinen? Hari Kunzru ist dieses Kunststück geglückt.

„White Tears“ beginnt als interessanter Gesellschaftsroman, in dem die Lebenswelten der reichen amerikanischen Oberschicht und der verarmten bzw. armutsgefährdeten Mittelschicht aufeinanderprallen. Zusätzlich wird auch ein Einblick in die Arbeitsweise der Musikindustrie gewährt, die einen enormen digitalen Aufwand treibt, ihren wirtschaftlich kalkulierten Produktionen den Anstrich von Originalität und Authentizität zu verleihen. Seth und Carter, die beiden Hipster in New York, fühlen sich zum unkonventionellen Leben hingezogen. Als elitäre Sammler und Inhaber ihrer auf digitale Bearbeitung spezialisierten Produktionsfirma, blicken sie auf den gewöhnliche Musikmarkt herab. Aber auch ihr eigenes Leben ist alles andere als authentisch. Seth bemerkt nicht, dass er sich im Grunde genommen in die völlige wirtschaftliche Abhängigkeit seines reichen und überlegenen Freundes Carter begeben hat. Er selbst ist mittellos und ohne jede Absicherung an dem gemeinsamen Unternehmen beteiligt. Carter hingegen verfügt zwar über beträchtliche finanzielle Mittel aus seinem Treuhandfond, kann darüber allerdings nicht ohne die Zustimmung seiner Familie verfügen. Die Verwaltung des eigens für das schwarze Schaf der Familie geschaffenen Fonds obliegt nämlich seinem Bruder. Er selbst steht abseits der Familie. Sein Charakter ist zerrissen. Einerseits simuliert er das Leben eines Bohemiens, andererseits greift er jedoch schamlos auf seinen Treuhandfond zurück. Ein Höhepunkt dieser Konstellation ist sicherlich der Besuch der beiden Freunde auf dem prunkvollen Anwesen der alten Familie, bei dem Carter versucht, weiteres Geld für ihre Produktionsfirma und seine Sammelleidenschaft aufzutreiben. Die Situation und das Agieren der beiden ist spannend und auch amüsant. Fast schon eine Gesellschaftssatire. Zunehmend geraten die Verhältnisse jedoch außer Kontrolle und immer deutlichere Anzeichen einer Bedrohung ziehen auf.

Auf das Angebot des gefälschten Blues Titels im Internet, meldet sich ein geheimnisvoller Sammler, der behauptet, dass es sich bei dem „Graveyard Blues“ um einen authentischen Song handeln würde und ihm der historische Sänger „Charlie Shaw“ tatsächlich auch bekannt sei. Es kommt zu einem Treffen und einige Zeit später liegt Carter nach einem brutalen Überfall im Koma. Besteht eine Verbindung zu den Ereignissen um den gefälschten Blues?

In dieser Phase ändert der Roman zunehmend seine Gestalt. Zu Beginn amüsante gesellschaftskritische, popkulturelle Betrachtung wird er zunehmend düsterer. Der plötzlich auf sich selbst zurückgeworfene Seth gerät aus der Bahn und begibt sich auf der Suche nach Antworten auf eine Reise in den tiefen Süden der USA, bis ins Mississippi Delta, zu den Wurzeln des Blues. Die Zeitebenen beginnen zu verschwimmen. Geister und Dämonen der Vergangenheit greifen aus in die Gegenwart und beginnen Seth zu verschlingen. Altes Unrecht drängt an die Oberfläche und verlangt nach Sühne. Rassismus, Ausbeutung, Gewalt, Verbrechen und bittere Armut. Ein Sog zieht Seth tiefer und tiefer hinab in die Vergangenheit. Wie der Autor Hari Kunzru selbst andeutet, ist es eine Reise in das Herz der Finsternis.

„White Tears“ ist ein raffinierter und vielschichtiger Roman über den US-amerikanischen Rassismus der Vergangenheit und Gegenwart. Dazu auch über das Wesen und die Authentizität von Musik. Elitäre New Yorker Hipster sehen sich als die wahren Kenner des Blues und nutzen ihre privilegierten Ressourcen, um sich die Musik zu eigen zu machen. Die aktuelle Diskussion kultureller Aneignung steht hier im Mittelpunkt der Betrachtung.

Sie war Mitte sechzig, vielleicht. Ein rot-schwarz-grünes Kopftuch, schwere Holzohrringe, die Arme grimmig verschränkt. „Wer hat gesagt, dass du hier fotografieren darfst?“ Ich erwähnte etwas von einer historischen Bluesgegend. Sie rollte mit den Augen und drehte sich weg. „Ist das Ihr Laden, Ma`am?“ „Und wenn?“ „Ist das ein Musikgeschäft?“ „Es ist ein gemeinnütziger Buchladen. Und er ist geschlossen. Außerdem nichts für dich.“ (…) „Um Gottes willen. Leute wie du kommen nur aus zwei Gründen her. Blues, oder um Fotos von Ruinen zu machen. Wir interessieren euch nur, solange wir tot sind.“

Versuchen Carter und Seth im ersten Teil des Romans noch die Vergangenheit für sich zu vereinnahmen, werden sie im zweiten Teil von dieser Vergangenheit überwältigt und gezwungen einen hohen Preis zu zahlen.

Das alles kommt in „White Tears“ keinesfalls belehrend daher, sondern wird geschickt verwoben in eine spannende und raffiniert aufgebaute Handlung. Ein Gesellschaftsroman, Roadmovie und eine Schauergeschichte zugleich. Wie auch in Nick Hornbys „High Fidelity“ und natürlich in Joseph Conrads „Das Herz der Finsternis“, geraten wir als Leser/-in durch die von Kunzru geschickt gewählte Perspektive des „Ich-Erzählers“ sofort mit hinein in den unbarmherzigen Sog der Vergangenheit. Der Roman ist dazu auch spannend und gut erzählt. Bis zu seinem furiosen Ende konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. 

Ein ungeheuer aufwühlender und spannender Roman, der mich tief beeindruckt hat.

  • Hari Kunzru, White Tears
  • Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 2017
  • Originalausgabe, „White Tears“, 2017
  • Hardcover, 350 Seiten
  • ISBN 978-3-95438-078-7
  • Preis: 22 €

 

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2 Comments

  • Horatio-Bücher

    Herzlichen Dank für die freundliche Rückmeldung. „White Tears“ hat mich tatsächlich sehr beeindruckt. Ich wünsche viel Freude bei der Lektüre und bin gespannt, ob es Dir auch gefällt. Viele Grüße

  • Constanze Matthes

    Ein Buch, das sogleich und unbedingt auf meine Wunschliste kommt. Du machst mich neugierig, vor allem mit Blick auf New York und die Musik. Ich finde jetzt endlich die Zeit, Deinen Blog in Augenschein zu nehmen. Er ist sehr schön. Ich bin gespannt auf die kommenden Beiträge. Viele Grüße

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