Belletristik

Jan Weiler, „Der Markisenmann“

Das Buch hat mich bereits beim Erstkontakt in der Buchhandlung voll erwischt. Präsentiert neben einer Reihe anderer Hardcover-Ausgaben, lag es auf einem der Tische und sprang mir, mit seinem unglaublich schräg-bunten Cover, sofort mitten ins Gesicht. Dieses schrille, braun-orange-gelbe 70er Jahre Design, das im Roman „Kopenhagen“ genannt wird, ist zugleich auch eines der beiden Muster der 3.406 Markisen im Vorrat des titelgebenden Markisenmanns aus Duisburg. Ein Roman mit diesem Cover, noch dazu gedruckt auf einen groben Textileinband, der sich bereits selbst anfühlt, wie eine Markise und dazu den Titel „Der Markisenmann“ trägt – schräger und stimmiger geht es kaum. Ein grandioser Aufschlag.

Noch dazu ist die Geschichte des Markisenmanns, soviel will ich vorwegnehmen, eine rührende Hommage an das Ruhrgebiet. 100 % mein Beuteschema! Sofort war mir klar, dass ich dieses Buch kaufen und auf dem Blog vorstellen musste. Die werten Leser*innen, die jetzt fürchten, mir könnte als Blogger in diesem Fall die erforderliche kritische Distanz zum Text verloren gegangen sein, liegen wohl richtig. Aber der Blog hat ja auch den Untertitel: „Begeisterung für Bücher“. Da muss ein gehöriges Maß an positiver Voreingenommenheit nicht unbedingt verkehrt sein.

„Der Markisenmann“ beginnt zunächst einmal als klassische Coming-of-Age-Story. Die 15-jährige Kim Papen aus dem wohlhabenden Köln-Hahnwald ist eine Teenagerin mit vielen Schwierigkeiten. In Schule und Familie, läuft eigentlich alles schief. Die Noten sind schlecht und zu Hause fühlt Kim sich als Fremdkörper. Auf eine seltsame Art nicht angenommen und in Konkurrenz zu ihrem jüngeren Halbbruder Geoffrey, der als leiblicher Sohn ihres Stiefvaters Heiko Mikulla ständig bevorzugt wird. In einem unbedachten Augenblick überzieht es Kim und fügt dem kleinen Geoffrey schwere Verletzungen zu. Unfall, Reflex, Angriff, oder alles gleichzeitig?! Das Maß ist voll. Für die Sommerferien 2005 wird Kim in die Obhut ihres leiblichen Vaters Roland Papen nach Duisburg-Meiderich abgeschoben. Sechs Wochen Ferien, Sommer, Hitze, blauer Himmel, Duisburg. Und so ist „Der Markisenmann“ die geradezu klassische „Geschichte eines Sommers“, nach dem Kims Leben nicht mehr so sein wird, wie es war.

Als Kim in Duisburg aus dem Zug steigt, steht sie zum ersten Mal ihrem leiblichem Vater Roland Papen gegenüber.

„Als der Zug weiterfuhr, leerte sich der Bahnsteig, und es blieb nur ein Mensch übrig (…) Er kam auf mich zu und ich war wirklich auf Anhieb vollkommen enttäuscht.“

Zeit ihres Lebens hatte Kim keine genaue Vorstellung von Ihrem Vater. Ihr einziger Anhaltspunkt ist ein altes, unscharfes Foto, Ort und Datum unbekannt. Zudem ist es das letzte Foto aus einem Album, dessen weitere Seiten leer geblieben waren. Nie hatte es einen Kontakt zwischen ihnen gegeben und auch ihre Mutter sprach nie über Roland Papen. Ihr Vater ist für Kim eine völlig fremde, rätselhafte Person. Genauso unscharf, wie das verblichene Foto.

„Na ja. Wir können ja mal Dinge unternehmen“, eierte mein frischgeborener Vater. „Minigolf. Oder Fußballplatz. Was junge Mädchen so machen.“

Roland Papen ist „der Markisenmann“. Er lebt in einer Lagerhalle in einem heruntergekommenen Gewerbegebiet von Duisburg-Meiderich, unmittelbar am Rhein-Herne-Kanal. Zur Wendezeit war er zusammen mit Kims Mutter aus der DDR in die Bundesrepublik gegangen und durch eine schwer zu durchschauende Gelegenheit Eigentümer der Halle und der darin befindlichen Markisen geworden. Die Markisen stammen aus alten DDR-Beständen und ihre zwei Designs, die Roland Papen liebevoll  „Kopenhagen“ bzw. „Mumbai“ getauft hat, waren bereits damals zur Wendezeit völlig krass und veraltet. Das zweite, besonders heftige Design „Mumbai“, eine eine wüste Farbkombination aus Blau, Gelb und Neongrün, ziert in seiner ganzen Pracht den inneren Vorsatz des Buchs. Herrlich!

Im Gegensatz zu der doch sehr stereotyphaft geratenen Ich-Erzählerin Kim, ist ihr Vater ein wahrhaft schillernder, gänzlich unkonventioneller, faszinierender Charakter. Roland Papen verkauft seine Markisen direkt an die Bewohner des Ruhrgebiets. Von Duisburg bis Hamm und von Marl bis Schwerte ist er unermüdlich unterwegs, immer Ausschau haltend nach noch „unbestückten“ Balkons, die eine seiner Markisen vertragen könnten. Natürlich ist sein Unternehmen weitgehend erfolglos, aber Roland Papen lässt sich davon überraschenderweise nicht im Geringsten verunsichern. Mit einer entwaffnenden Ernsthaftigkeit, Freundlichkeit und Würde, führt er sein bescheidenes, entrücktes Leben in der abgelegenen Lagerhalle am Rhein-Herne-Kanal. Direkt im Herzen des Ruhrgebiets. Bei allem Fleiß und Engagement ist er ausgesprochen genügsam und ohne größere Ambitionen. Ein freundlicher, positiver, bescheidener Mensch, den aber ganz offensichtlich ein Geheimnis umgibt.

„Wenn irgendwann die letzte E-Mail verschickt ist und das ganze Dings-Netz wegen Erfolglosigkeit abgeschaltet wird, dann sind meine Markisen immer noch da und schützen die Balkons von Oberhausen gegen das grelle Licht der Sommersonne.“

Damit ist Roland Papen der genaue Gegenentwurf zu Heiko Mikulla, Kims Stiefvater aus Köln-Hahnwald. Dieser ist ein in Saus und Braus lebender, erfolgreichen Unternehmer. Konsumorientiert, polternd, hart, peinlich, neureich. Heiko Mikulla hat es mit seinen unzähligen Geschäftsideen zu bemerkenswertem Reichtum und einer Villa gebracht. Seiner Stieftochter stand er von Beginn an auffallend ablehnend gegenüber. Früh wird klar, dass beide Männer mehr als nur eine Stief-/Tochter verbindet.

Im Verlauf des Romans bewegt sich der Fokus immer mehr fort von der Coming-of-Age-Story, hin zu der tragischen und traumatischen gemeinsamen Vergangenheit von Roland, Heiko und Kims Mutter Susanne. Die drei waren zu DDR-Zeiten eng befreundet. Es folgten dramatische Ereignisse in den Wendejahren, die die Schicksale und Lebenswege aller Beteiligten immer noch bestimmen. Und so sind auch Roland Papen und Heiko Mikulla, nicht die Ich-Erzählerin Kim, die unkonventionelleren und spannenderen Charaktere der Geschichte, die dem Roman eine unerwartete, Tiefe verleihen.

Denn eigentlich ist Jan Weilers „Der Markisenmann“ ein skurriler, heiter-melancholischer Roman über das Ruhrgebiet und den unvergleichlichen, entwaffnenden Charme seiner Menschen. Ein nostalgisch, verklärtes Ruhrgebietsmärchen, dass sich nicht dadurch aufhalten lassen will, die vielfältigen Schattenseiten und Probleme der Region auszuleuchten, sondern diese konsequent ausblendet, um stattdessen zum idealisierten Kern ihrer Bewohner vorzustoßen. Dabei überschreitet der Autor mutig und konsequent sämtliche Klischee- und Kitschgrenzen. Das muss man mitmachen können, sonst ist es mit der Lektüre vorbei.

„Der Nüper“ war so etwas wie der Endgegner bei „World of Warcraft“, nämlich eine unmenschliche Skatmaschine aus Hamborn, die in jedem Jahr den großen Schinken mit nach Hause nahm. Der Schinken war der legendäre Hauptpreis, gestiftet von der örtlichen Metzgerei und gute zwölf Kilo schwer.“

In herrlicher Übersteigerung treffen Kim und Roland Papen bei ihren gemeinsamen Verkaufstouren in den „noch unbestückten“ Wohnungen auf Typen und Situationen, die mich nicht selten an Loriots Vertreterbesuche im Wohnzimmer von Frau Hoppenstedt erinnerten. Und ebenso deutlich übersteigert, ist auch Roland Papens Nachbarschaft rund um die Lagerhalle in Duisburg-Meiderich. Hier im abgelegenen Gewerbegebiet trifft man auf Achim, der bei einer Spedition arbeitet, Lütz den Automechaniker, den früh verrenteten „Oktopus“ und den klugen Alik, fünfzehnjähriger Sohn einer deutschrussischen Mutter und eines tunesischen Vaters, der mit großer Ernsthaftigkeit Altmetall sortiert. Natürlich kehrt man allabendlich in der Hafenpinte „Rosi´s Pilstreff“ am wunderbaren Strand des Rhein-Herne-Kanals ein, das von Klaus geführt wird und in dem es nicht immer etwas zu Essen gibt. Manchmal Buletten auf der Theke oder auch Currywurst, wenn Klaus schnell und heimlich durch den Hinterausgang zur nächsten Bude flitzt. Es wird gemeinsam geschwiegen, gefachsimpelt und Skat gespielt. Ein guter Spruch jagt dabei den nächsten. Viele habe ich mir zur späteren Verwendung notiert.

„Wenn ich etwas im Ruhrgebiet gelernt habe, dann, dass eine gute Autopolitur mitunter glücklicher macht als eine Kreuzfahrt.“

Es sind einfache, bescheidene, sympathische Typen mit ganz viel Herz und sehr wenig Geld. Originale, wie sie nur das allerhärteste Ruhrgebiets-Klischee hervorzubringen vermag. Interessant, dass der gebürtige Ostdeutsche Roland Papen so bemerkenswert gut in dieses Umfeld passt.

Die nostalgisch verklärte Duisburger Ruhrgebiets-Idylle des Markisenmanns wuchert vollkommen jenseits sämtlicher Kitschgrenzen. Das kann nur unfallfrei funktionieren, weil sie den Hintergrund für eine gelungene Coming-of-Age-Story und eine bewegende, schicksalhafte Wendegeschichte bildet. Eine sehr gewagte Mischung aus Unterhaltung und Tiefgang, die bei mir voll aufgegangen ist.

Allerdings komme ich selbst auch aus dem Ruhrgebiet und bin damit eindeutig befangen. Wohl aus diesem Grund, habe ich im Verlaufe der Lektüre ganz sicher die kritische Distanz verloren. Das kommt nicht häufig vor, ich habe es aber sehr genossen. Deshalb eine Warnung: Meiner Empfehlung ist dieses Mal nicht zu trauen!

Wer ein Herz für das Ruhrgebiet hat und sich nicht vor Klischees fürchte, wird mit Jan Weilers Roman „Der Markisenmann“ sehr gut und gekonnt unterhalten.

 

„Hier, wo das Herz noch zählt…“ – Ein Ruhrgebietsmärchen und meine Empfehlung. 

Im Anhang des Buchs ist ein QR-Code abgedruckt, der bei Spotify zu einer „Markisenmann-Playlist“ führt. Die teilweise etwas gewöhnungsbedürftige Musik ist so etwas wie der Soundtrack zum Roman und hat mich in der Zeit der Lektüre fast täglich begleitet. Eine wirklich großartige und amüsante Idee!

  • Jan Weiler, Der Markisenmann
  • Hardcover, 353 Seiten
  • Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 2021
  • ISBN 978-3-453-27377-1
  • Preis: 22 €
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