Belletristik

Miqui Otero, „Simón“

Mir ist der Roman des spanischen Schriftstellers und Journalisten Miqui Otero wegen seiner herrlichen Gestaltung aufgefallen, oder besser gesagt: „ins Auge gefallen“. Ich gebe unumwunden zu, dass für mich, gerade bei Hardcover-Ausgaben, die Gestaltung des Buchs, inklusive der Auswahl der Materialien, eine bedeutende Rolle spielt und ganz eindeutig zum „Gesamtpaket Buch“ dazu gehört. Im Falle von „Simón“ ist das dem Klett-Cotta Verlag ganz ausgezeichnet gelungen. Den Umschlag des Romans, der vom Verlag immerhin als „Denkmal der Stadt Barcelona“ bezeichnet wird, ziert ein spannend in Szene gesetzter Fotoausschnitt einer historischen Stadthausfassade, die sehr ansprechend beschriftet ist und wunderbar zum Inhalt und Charakter des Buchs passt. Zusammen mit der feinen Papiersorte und dem sehr gelungenen Buchsatz, ist es eine Freude, dieses schöne Buch in den Händen zu halten. Ein einnehmender Auftritt und damit auch ein verheißungsvoller Einstieg in die Lektüre. Chapeau!

Der 43 Jahre junge in Barcelona geborene Schriftsteller Miqui Otero gilt bereits heute als ein „Chronist“ der Stadt und eine „Schlüsselfigur“ der Kulturszene Barcelonas. Mit seinem 2016 erschienenen dritten Roman „Rayos“ wurde er einem größeren Kreis von Leser*innen bekannt. Im Jahr 2020 erschien dann sein nächster Roman „Simón“, der auch international große Beachtung fand. Seit 2022 liegt „Simón“ jetzt in deutscher Übersetzung von Matthias Strobel vor.

Risse in einer behaglichen Kinderwelt

Oteros Roman „Simon“ überspannt den Zeitraum von 1992 bis 2018. In zwölf Episoden erzählt er die Entwicklung des jungen, titelgebenden Simón, der in der elterlichen Kneipe „Baraja“ im kosmopolitischen, katalonischen Barcelona aufwächst und dann in die Welt aufbricht, nur um am Ende wieder zurückzukehren. Seine Kindheit im Mikrokosmos der elterlichen Kneipe ist zwar einfach, aber auf eine Art auch durchaus behütet. Im „Baraja“ verkehren hauptsächlich Stammgäste. Es wird viel Karten gespielt. Ein Ort der sogenannten einfachen Leute. Hart arbeitende Menschen, die hier regelmäßig einkehren und sozialen Zusammenhalt finden. Man kennt sich und man kennt den kleinen Simón, der hier lebt, aushilft und zwischen den Gästen seine Schulaufgaben macht.

„Simón verstand, warum Rico ihm eingeimpft hatte, dass Lesen die einzige Möglichkeit sei, viele Leben zu leben, statt nur dieses eine.“

In Gedanken lebt Simón ein Leben in den großen klassischen Romanen, die ihm sein geliebter und verehrter älterer Cousin Rico regelmäßig von Barcelonas großem Bücherflohmarkt mitbringt und die er allesamt sogleich verschlingt. Der kleine Simón kann durchaus als leicht der Welt entrückt bezeichnet werden. Seine Ideale sind die Helden der Klassiker und ganz besonders natürlich sein Cousin Rico, den er uneingeschränkt bewundert.

„Denn nach dem Partymachen am Samstag kaufte Rico (…) ihm ein gebrauchtes Buch auf dem sonntäglichen Flohmarkt von Sant Antoni, dem besten Markt für gebrauchte Bücher in ganz Europa. Dann machte er noch einmal Zwischenstation und trank einen Kaffee, um seinen Rausch zu lindern, und brachte mit seinen Unterstreichungen Sätze zum Leuchten, die für seinen Cousin wie Stromschläge, Passagen, die wie Fährten waren.“

Mit der Zeit zeigen sich allerdings Risse in der behaglichen Kinderwelt. Als der bewunderte Rico plötzlich verschwindet, ahnt Simón noch nicht, dass sein Cousin in Drogengeschäfte verwickelt ist und untertauchen musste. Auf einen Schlag verändert sich Simóns Leben. Auch mit dem elterlichen „Baraja“ geht es langsam, aber sicher bergab. Die Wirtschaftskrise trifft Barcelona mit voller Wucht. Die Menschen haben kaum noch Zeit oder Geld die geliebte Kneipe zu besuchen.

Rico bleibt verschwunden. Durch einige Verwicklungen des Schicksals begünstigt, gelingt es Simon in einem Sterne-Gourmetrestaurant eine Lehre als Koch zu beginnen. Dort erlebt er die harten und brutalen Verhältnisse der Arbeitswelt hinter den noblen Kulissen. Ausbeutung, Rassismus und sexuelle Übergriffe sind hier an der Tagesordnung. Simón, ganz strahlender Held der klassischen Romane, kann da nicht stillhalten.

 

Literatur vs. gesellschaftlicher Niedergang

Die Ideale der klassischen Literatur im Kampf gegen den gesellschaftlichen Niedergang. Dies ist die Grundkonstellation von Oteros Roman. Barcelonas Gesicht verändert sich rasant und aus Sicht seiner der meisten Bewohner nicht zum Besten. Die alten Zeiten sind verloren. Olympische Spiele, Wirtschaftskrise, Bankenkrise, Immobilienblase, terroristische Anschläge, Autonomiebewegung. Die Stadt ist ständigen Krisen ausgesetzt, die nicht nur in der Stadt, sondern auch in den Leben ihrer Bewohner tiefe Spuren, ja Wunden hinterlassen.

„Die freien Romane sind wie Fechten: Sie sind eine Gefahr für Leib und Leben und feiern es zugleich.“

Obwohl Miqui Otero den Roman mit einer Vielzahl ausgefallener, sorgfältig gezeichneter Figuren bevölkert, lässt er keinen Zweifel daran, dass Simón ganz eindeutig der Held ist. Genauso bezeichnet ihn der Autor auch selbst, wenn er sich als Erzähler in manchen Passagen direkt an die Lesenden wendet. Sein Held kämpft im allgemeinen Niedergang seinen Kampf gegen die Desillusionierung. Können die Ideale aus Simóns Kindheit, die Helden der „freien Romane“, auch in der realen defekten Welt bestehen? Simón hält an ihnen fest.

„Der Zufall bringt das Leben durcheinander, die Fiktion ordnet es.“

 

Ein nicht leicht einzuordnender Roman

Miqui Otero ist ein versierter, intelligenter Erzähler, der die Episoden aus Simóns Leben in einem wunderbaren, leicht entrückten Ton erzählt. So werden der Geschichte schon fast märchenhafte Züge verliehen. Trotz des allgegenwärtig spürbaren gesellschaftlichen Niedergangs ist der Roman von einer großen, wunderbaren Menschlichkeit erfüllt. Dies liegt neben Oteros Erzählkunst auch an Simóns tiefen Verwurzelung in der Literatur, die den Blick der Lesenden auf die Ereignisse bestimmt. Das Buch ist erfüllt von klugen und spannenden Einsichten und literarischen Anspielungen, die es einem unmöglich machen, ohne andauernde Unterstreichungen und Markierungen weiterzulesen.

Der Roman ist nicht leicht einzuordnen. In seiner Episodenhaftigkeit, der Auflehnung des Helden gegen die drohende Desillusionierung und Simóns durchaus gewitzter Suche nach gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten, weist er jedoch wesentliche Züge des sogenannten Schelmenromans auf. Dieser Eindruck wird durch die nicht immer so richtig glaubhafte Handlung und Motivation der Figuren noch verstärkt. Statt die Realität der Einwohner der katalonischen Metropole abzubilden, gleichen Simons Erlebnisse in ihrer Übersteigerung viel mehr den Abenteuern aus seinen klassischen „freien Romanen“. Die angedeuteten historischen und politischen Umstände Barcelonas, die Schattenseiten der neoliberalistischen Gesellschaft und Simóns eigentlich interessant angelegte Familiengeschichte, werden dadurch leider in den Hintergrund gedrängt.

 

Trotz aller Erzählkunst springt der Funke nicht über

Überhaupt kann der Roman, bei aller Erzählkunst und sicherlich vorhandener literarischer Tiefe, nicht so richtig erklären, warum er eigentlich gelesen werden soll. Simóns episodenhaft erzählte Geschichte ist letztendlich einfach nicht packend genug, um den Roman über 439 Seiten hinweg allein zu tragen. Da die guten Anlagen als Gesellschafts-, Großstadt- und Familienroman jedoch etwas vernachlässigt wurden, fehlt dem Buch einfach das Element, dass die Leser*innen in seinen Bann zieht. Für einen Roman nicht unproblematisch.

 

Was bleibt:

Miqui Oteros lässt in seinem Roman „Simón“ die Ideale der Literatur mit dem gesellschaftlichen Niedergang seiner Geburtsstadt Barcelona ringen. Ein gekonnt und intelligent erzählter, teilweise etwas sentimentaler Schelmenroman, der die Lesenden leider nicht immer ganz mitreißen kann.

    • Miqui Otero, Simon
    • Aus dem Spanischen von Matthias Strobel
    • OA: „Simon“, 2020
    • Hardcover, 439 Seiten
    • J.G. Cotta`sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2022
    • ISBN 978-3-608-98074-5
    • Preis: 25 €
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