Gabrielle Zevin, „Morgen, morgen und wieder morgen“
„In der Highscore-Tabelle des Donkey-Kong-Automaten seines Großvaters tauchte er als S.A.M. auf, aber meistens war er einfach nur Sam.“
Verlagswerbung und Klappentext hatten mich sofort elektrisiert: „Morgen, morgen und wieder morgen“ von Gabrielle Zevin sei „ein Jahrzehnte umspannender Roman über Popkultur und Kreativität…“. Die Geschichte von „Sadie, einer hochbegabten Informatikstudentin und angehenden Gamedesignerin von Computerspielen“ und „ihrem früheren Super-Mario-Partner Sam“, die „beginnen, gemeinsam an einem Spiel zu arbeiten“. Nachdem das „Computerspiel zum Hit wird“, brächen „sich Rivalitäten Bahn, die alles zu bedrohen scheinen, was sie sich aufgebaut haben“.
Besuchern meines Blogs oder Twitteraccounts, wird nicht verborgen geblieben sein, dass ich mich, trotz erheblicher zeitlicher Einschränkungen und literarischer Interessen, immer noch als „Gamer“ bezeichnen würde. Meine entsprechende Sozialisation verlief über die Gerätestationen Pong, Atari VCS, C64, PS, PC, Android, bis hin zum Online-Gaming. Dazu noch ein zwar kurzer, aber intensiver Ausflug in den Amateur-E-Sport. Die wesentlichen Meilensteine im Gaming-Bereich habe ich im Laufe der Jahrzehnte am eigenen Leib miterleben dürfen. Da ich andererseits ja ganz offensichtlich auch ein großer Literaturfreund bin, fühlte ich mich selbstverständlich sofort berufen, auf „Horatio-Bücher“ über diesen besonderen Roman zu berichten.
Ganz klar – Romane bzw. Bücher zu Nerd-Themen, insbesondere dem Gaming, gibt es schon eine ganze Menge. Ich denke da zum Beispiel an das nostalgisch-witzige, besonders für Retro-Gamer*innen interessante „Extraleben“ von Constantin Gillies (will ich unbedingt auch noch einmal auf dem Blog vorstellen) oder auch an Matt Ruffs ernster gelagerten Online-Gaming-Thriller „88 Namen“ (bereits auf dem Blog zu finden). Bei den meisten Vertretern des Genres handelt es sich allerdings um Romane, die über Nerdkreise hinaus kaum Leser*innen ansprechen können. Meist richten sie sich direkt an Gaming-Insider*innen und setzen bestehende und vertiefte Kenntnisse voraus. Leser*innen, denen diese Welten unbekannt sind, können mit den Büchern in der Regel wenig anfangen. Bei Gabrielle Zevins Roman ist das jedoch auf erfreischende und bemerkenswerte Weise anders: Obwohl sich auch die 1977 in New York geborene Autorin im wunderbaren Nachwort ihres Romans selbst als Gamerin, seit sie denken kann bezeichnet, ist „Morgen, morgen und wieder morgen“ sehr viel mehr als bloß ein Nischenroman für interessierte Nerds. Ich möchte schon an dieser Stelle verraten, dass der Autorin mit diesem Buch eine ganz wunderbare Verbindung von „Nerdgold“ und durchaus anspruchsvoller Literatur gelungen ist. Ein sehr großer Wurf. Vielleicht gar ein großer amerikanischer Roman.
„Was ist ein Spiel?“ – „Es ist morgen, morgen und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung. Die Vorstellung, dass du, solange du weiterspielst, gewinnen kannst. Kein Verlust ist von Dauer, denn nichts ist von Dauer, niemals.“
Als Titel des Romans hat Zevin mit „Morgen, morgen und wieder morgen“ ein bekanntes Zitat aus Macbeth gewählt. Den Umschlag der überaus ansprechend und bunt gestalteten Hardcover-Ausgabe ziert ein Ausschnitt der berühmten „Großen Welle von Kanagawa“, deren japanischer Druck zu den berühmtesten graphischen Werken der Welt zählt. Beides mit unmittelbarem Bezug zum Inhalt des Romans. Die Messlatte liegt also hoch. Das ist sehr mutig und erweist sich auch als vollkommen gerechtfertigt.
Die Geschichte beginnt in den 80ern. In Los Angeles treffen Sadie und Sam erstmals als Kinder im Spielzimmer eines Krankenhauses aufeinander. Sadie, ein Mädchen aus wohlhabenden Verhältnissen, besucht ihre an Krebs erkrankte Schwester. Sam ist selbst Patient. Er hat gerade seine Eltern bei einem Autounfall verloren. Sein Bein ist zerschmettert. Vom Unfall traumatisiert, hat er bisher mit niemandem gesprochen. Beide Kinder sind hochintelligente Außenseiter. Im Spielzimmer läuft auf einer NES-Konsole „Super Mario Brothers“. Sam, dessen Opa einen „Donkey-Kong-Automaten“ in seinem Restaurant besitzt, ist Meister darin, den Klempner durch die Levels zu dirigieren. Auch Sadie hat ein Faible für Computerspiele. Beide Kinder fassen schnell Vertrauen zueinander und kommen ins Gespräch. Zwischen ihnen scheint eine Art Seelenverwandtschaft zu bestehen. Durch unglückliche Umstände verlieren sie sich jedoch wieder aus den Augen, nur um dann in den 90ern, als Studierende am MIT in Boston, unvermittelt wieder aufeinander zu treffen.
„Sadie war von Natur aus eine Einzelgängerin, aber in einem weiblichen Körper ins MIT zu gehen war selbst für sie eine Lektion in Einsamkeit.“
Auch am MIT sind die Interessen der beiden Nerds ganz auf das Programmieren von Games gerichtet. Es ist die Zeit, in denen das Gaming bereits den Kinderschuhen entwachsen ist und sich ein weltweiter Markt entwickelt hat. Bereits absehbar, dass Computer- bzw. Konsolenspiele großes Business der Unterhaltungsindustrie sind und Hollywood schon bald den Rang ablaufen werden. Die kreativen und talentierten Studierenden Sadie und Sam entwickeln sich zu ambitionierten und engagierten Spieleentwickler*innen. Zusammen mit ihrem Kommilitonen Marx, gründen sie die eigene Firma „Unfair Games“, um ihre kreativen Entwicklungen zu produzieren und zu vermarkten. „Unfair Games“ ist ein Studio aus dem Bereich der Independent-Games, dem gleich mit der ersten Entwicklung, dem Spiel „Ichigo“ der große internationale Durchbruch gelingt. Die Firma wächst rasant und wird schnell von einem kleinen Geheimtipp zu einem großen und renommierten Studio, das weltweit große Beachtung findet. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen: Erfolgsdruck, kreative Erschöpfung und wirtschaftliche Zwänge sind plötzlich an der Tagesordnung. Das anfangs so gut austarierte Dreieck Sadie, Sam und Marx, gerät immer mehr aus dem Takt.
Man merkt dem Roman auf ganz wunderbare Weise an, dass die Autorin „vom Fach ist“. Immer kenntnisreich und auch sehr pointiert, wird die Entwicklung der sog. „Computerspiele“ nicht einfach nur nachvollzogen, sondern sicher und klug mit der Handlung verwoben. Parallel zu der sich stetig fortentwickelnden Gaming-Szene, werden auch die knallharten Mechanismen der Spieleindustrie lebendig. Zunehmende Professionalisierung, Entwicklungskosten, Marketing, Massengeschmack und politische bzw. soziale Folgen bilden das Gerüst der Geschichte. Das ist spannend und sehr interessant zu lesen. Hier wurde nicht lediglich ein bisschen herumrecherchiert, was schnell peinlich wirken kann, nein – Gabrielle Zevins Herz schlägt tatsächlich für das Gaming! Das macht diesen Roman, der als Hintergrund ja mutig ein Nischenthema gewählt hat, ungeheuer authentisch. Absolut gelungen.
Aber wie bereits angedeutet, ist der Morgen, morgen und wieder morgen“ sehr viel mehr als nur eine Retro-, bzw. Insider*innen-Geschichte. In klarer, schnörkelloser Sprache wird das bewegende Leben zweier sehr verschiedener Einzelgänger*innen erzählt. Obwohl Sadie und Sam als hochintelligente Spieleentwickler*innen für dieselben Themen brennen, stammen sie aus sehr unterschiedlichen Welten. Sam kommt aus einfachen Verhältnissen. Er ist bei seinen koreanischen Großeltern aufgewachsen. Als Folge des tragischen Autounfalls leidet er an seinem versehrten Körper und ist Frauen gegenüber unsicher. Sadie hingegen wuchs behütet in einer wohlhabenden Familie auf. Sie ist attraktiv, extrovertiert und während der Zeit am MIT ihrem Professor verfallen. Fachlich ergänzen sich beide aufs allerbeste. Ihr emotionales Verhältnis zueinander ist dagegen mehr als kompliziert. Jahrzehntelang umkreisen sich beide, finden enger zusammen und stoßen sich ab.
Dieses überzeugend erzählte, teilweise düstere Verhältnis wird durch den Dritten im Bunde, dem positiven und weltoffenen Sunnyboy Marx sehr spannend ergänzt. Im Gegensatz zu Sadie und Sam, steht Marx mit beiden Beinen im Leben. Er stammt aus sehr reichen Verhältnissen und wird zum erfolgreichen Produzenten der Firma. Von Beginn an unterstützt er Sadie, Sam und „Unfair Games“.
Natürlich stellen sich bei einer derartigen Drei-Personen-Konstellation automatisch Irrungen und Wirrungen ein. So ist „Morgen, morgen und wieder morgen“ im Grunde eine mitreißende, Liebes- und Beziehungsgeschichte zwischen drei wirklichen erfrischenden und interessanten Figuren. Gleichzeitig weist der Roman auch Elemente einer Coming-of-Age-Story auf, die Sadie und Sam als gezeichnete Erwachsene zurücklässt.
„Und was ist Liebe, wenn nicht der irrationale Wunsch, aus dem evolutionären Wettbewerb auszusteigen und einem anderen Menschen das Leben zu erleichtern?“
Die so große Stärke von Gabrielle Zevins Romans ist aber seine gelungene Balance. Liebesgeschichte, Gesellschaftsroman, Zeitdokument, Entwicklungsroman und Popkultur wurden zu einem wunderbar funktionierenden Ganzen verbunden. Durchaus anspruchsvoll aufgebaut, mit einer klaren Sprache schnörkellos erzählt, ist „Morgen, morgen und wieder morgen“ ein vielschichtiger, intelligenter, gänzlich gelungener Roman. Ein düster-buntes Werk, dem das große Kunststück gelingt, Literatur und Nerdgold zu vereinen. Ich bin begeistert.
„Wie viele Bildschirme hat der Ozean?“ fragte LQ. – „Neun oder zehn“, sagte Emily. – „Woher weißt du das?“ – „Ich bin ans Ende geschwommen.“ – „Und was ist am Ende?“ – „Eine Art Nebel und dann ein Nichts, das einer Wand ähnelt. Du wirst es erkennen, wenn du es siehst.“ – LQ nickte. „Ist es gruselig?“ – „Nein, davor musst du keine Angst haben. Es ist nur das Ende.“
10 READY
20 FOR X = 1 TO 100
30 PRINT „ES TUT MIR LEID,SAM ACHILLES MASUR“
40 NEXT X
50 PRINT „BITTE BITTE BITTE VERZEIH MIR.IN LIEBE DEINE FREUNDIN SADIE MIRANDA GREEN“
60 NEXT X
70 PRINT „VERZEIHST DU MIR?“
80 NEXT X
90 PRINT „J ODER N“
100 NEXT X
110 LET A = GET CHAR ()
120 IF A = “J“ OR A = „N“ THEN GOTO 130
130 IF A = „N“ THEN 20
140 IF A = „J“ THEN 150
150 END PROGRAM
[Zitat aus: Gabrielle Zevin, Morgen, morgen und wieder morgen]
Werbung, weil kostenloses Rezensionsexemplar
- Gabrielle Zevin, Morgen, morgen und wieder morgen
- Aus dem amerikanischen Englisch von Sonia Bonné
- OA: „Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow“, 2022
- Hardcover, 556 Seiten
- Bastei Lübbe AG, Köln – Eichborn Verlag, 2023
- ISBN 978-3-8479-0129-7
- Preis: 25 €
2 Comments
Ulf
„Mein Buch des Jahres 2023 (zumindest bis heute)“ – Interessante Kategorie! Aber die Buchbesprechung macht tatsächlich Lust aufs Lesen. Auch wenn ich selbst ein sehr verhaltener Gamer war („Tetris“ und „Dune“, beide natürlich in 2D), werde ich mir den Roman auf meinen Bücherstapel legen. Denn immerhin: Als IT-Fuzzi der ersten Stunde konnte ich Sadies 15-Zeilen-Programm sofort als BASIC-Befehlssequenz identifizieren, mit denen ich zuletzt in den Achtzigern auf einem Commodore C64 hantiert habe.
Danke für Deine Rezension.
Horatio-Bücher
Hallo Ulf, vielen Dank für Deine Rückmeldung. Das kleine (dem Buch entnommene) BASIC Programm hat mich auch sofort an längst vergessene Zeiten erinnert. Diese Details sind einfach eine große Qualität des Buchs. Als Computer-affiner Mensch und gleichzeitiger Literaturfreund, wird Dir das Buch bestimmt gefallen. LG Jörg