Science-Fiction,  Thriller

Nils Westerboer, „Kernschatten“

Im letzten Frühjahr erschien bei Klett-Cotta „Athos 2643“. Der essayistischen Züge tragende komplexe Science-Fiction war der zweite Roman des Autors Nils Westerboer (*1978 im schwäbischen Gaildorf) und hat mich nachhaltig beeindruckt. Sofort nachdem ich meine Rezension beendet hatte, versuchte ich daher auch Nils Westerboers Debütroman „Kernschatten“ aus dem Jahr 2015 zu bestellen, doch leider war dieser im letzten Jahr nicht erhältlich. Das hat sich zum Glück geändert. „Kernschatten“ ist in der letzten Woche zu meiner großen Freude bei Klett-Cotta in einer überarbeiteten Version als Taschenbuch „wiederveröffentlicht“ worden. Angesichts des Erfolgs von „Athos 2643“, der jetzt auch noch für den „Seraph 2023“ nominiert wurde, eine sehr gute Entscheidung des Verlags.

[Definition: Kernschatten] „Wird ein Gegenstand von zwei punktförmigen Lichtquellen beleuchtet, gelangt Licht von der linken Lichtquelle teilweise in den Schatten der rechten Lichtquelle und umgekehrt. Den Bereich, in den weder Licht von der linken noch von der rechten Lichtquelle dringt, nennt man Kernschatten.“

Wer den in einer fernen Zukunft angesiedelten Science-Fiction-Roman „Athos 2643“ kennt, wird bei der Lektüre von Nils Westerboers Debüt „Kernschatten“ zunächst einmal überrascht sein. „Kernschatten“ ist nämlich kein Science-Fiction-Szenario, sondern ein in der Gegenwart spielender Thriller. Er erzählt von exakt 24 Stunden im eisigen Murmansk, der russischen Hafenstadt nördlich des Polarkreises. Und genauso dunkel wie die dortige Polarnacht, sind auch die sich immer dramatischer überschlagenden Ereignisse des Romans.

 

 

Es beginnt wie ein Krimi mit einer Leiche im Park

Die Geschichte beginnt als ein etwas ungewöhnlicher Kriminalfall. In einem Park wird ein grotesk lächelnder Toter gefunden. Der gerade erst beförderte Polizist Kolja Blok nimmt die Ermittlungen auf. Schon bald stellt der, von seiner neuen Stelle noch überforderte, Kommissar fest, dass es sich bei dem Toten um einen vermissten Wissenschaftler des Kernforschungszentrums CERN handelt, der in der Schweiz am LHC-Teilchenbeschleuniger gearbeitet hatte.

Zur selben Zeit stößt Mika Mikkelsen, der junge Angestellte eines Murmansker Fotogeschäfts, auf ein mysteriöses Foto des vermissten Wissenschaftlers und begibt sich eigenmächtig ebenfalls auf die Spur des Mannes. Schon bald kommen der Polizist und der Amateur mächtigen und äußerst gefährlichen Gegnern in die Quere. Ein tödlicher Wettlauf mit der Zeit beginnt bei dem am Ende wirklich alles auf dem Spiel steht.

 

 

Die Gesetze der Natur werden außer Kraft gesetzt

Im Zentrum von „Kernschatten“ verbirgt sich ein Wissenschaftsszenario, das mich in dieser Verbindung mit dem Thriller-Stoff stark an die Romane Michael Chrichtons erinnert. Da es bereits der Klappentext verrät, kann ich ohne zu spoilern sagen, dass dem Kriminalfall düstere Ereignisse am CERN zugrunde liegen. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, ist dort eine fremdartige Substanz entstanden. Ein unbekanntes, äußerst aggressives schwarzes Material, für das die bekannten Naturgesetze keine Geltung zu haben scheinen. Und, als wäre das alles nicht schon schlimm genug, scheint es sich unkontrollierbar auszubreiten. Wurde im CERN die Büchse der Pandora geöffnet? Wohin mit der gefährlichsten Entdeckung aller Zeiten? Die Grenzen der bekannten Physik sind erreicht.

„Derzeit verdichten sich die Hinweise darauf, dass der dreidimensionale Raum, den wir sehen können, nur ein Bruchteil der wirklichen Welt ist. […] Nehmen Sie einen Wasserläufer. Stellen Sie sich vor, er lebt sein ganzes Leben auf der Oberfläche eines Teichs und kann sie nicht verlassen. Er ist auf ihr gefangen. Nun trifft er auf einen runden Stock, der aus dem Wasser ragt. Was glauben Sie, wie nimmt der Wasserläufer den Stamm war? […] Der Wasserläufer weiß nicht, was über und unter der Oberfläche ist. Für ihn ist der Stamm nichts weiter als eine kreisrunde Störung in seiner Welt. Genau das ist unsere Situation.“

 

Ein rasanter (Wissenschafts-) Thriller

Der Wissenschaftsthriller hält sich nicht groß mit Nebensächlichkeiten auf. Zum durchaus interessanten wissenschaftlichen Unterbau der Geschichte und den handelnden Charakteren erfahren wir gerade nur so viel, wie für den Fortgang der Handlung erforderlich ist, denn trotz des wissenschaftlichen Katastrophenszenarios, steht bei Nils Westerboers Roman eindeutig die rasante, spannungsgeladene Handlung im Vordergrund. „Kernschatten“ bleibt in erster Linie ein Thriller, der kompromisslos auf Spannung ausgerichtet ist. Rätselhafte Begebenheiten, tödliche Bedrohungen, packende Verfolgungsjagden und geschickte Cliffhanger sorgen für das erhebliche Tempo des düsteren Romans. Ein dunkles, eiskaltes, mitreißendes Crescendo, bis zum großen Finale.

 

Nils Westerboers Debütroman „Kernschatten“ ist ein rasanter, düsterer und direkt erzählter Wissenschaftsthriller. 284 Seiten spannende Unterhaltung.

    • Nils Westerboer, Kernschatten
    • Taschenbuch, 284 Seiten
    • Erstausgabe 2015
    • Hobbit Presse / J. G. Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2023
    • ISBN 978-3-608-12028-8
    • Preis: 12 €
Facebook
Twitter
WhatsApp
Email

3 Comments

  • Aleshanee

    Schönen guten Morgen!

    Das ist echt interessant, denn mir kommt es grade vor, als hätten wir zwei unterschiedliche Bücher gelesen 😀
    Ich fand es leider weder rasant, noch spannend, so leid es mir tut. Ich hab „Athos“ ja letztes Jahr auch gelesen und war total fasziniert! Umso enttäuschter war ich dann jetzt, denn ich konnte mich hier mit gar nichts so wirklich anfreunden. Weder mit dem Schreibstil, noch mit den Charakteren und auch die Handlung hat mich nicht so mitreißen können. Vor allem über die Substanz hätte ich gerne mehr erfahren, aber das war mir alles zu oberflächlich. Bzw. wenn was erklärt wurde, bzw. darüber geredet, war es mit wissenschaftlichen Wörter gespickt, mit denen ich nichts anfangen konnte…

    Aber es freu mich dass es dir so gut gefallen hat 🙂

    Liebste Grüße, Aleshanee

    • Horatio-Bücher

      Hallo Aleshanee,
      zum Interessantesten am Bloggen gehören für mich tatsächlich die unterschiedlichen Sichtweisen, die verschiedene Leser*innen auf ein und denselben Roman haben können.
      Athos und Kernschatten sind für mich zwei Romane, die komplett unterschiedlichen Genres angehören und sich daher nur ganz eingeschränkt miteinander vergleichen lassen. Deshalb hat mir da auch nichts gefehlt.
      Als Wissenschaftsthriller hat mir Kernschatten wirklich gut gefallen. Als 284 Seiten knapper Roman empfinde ich ihn bewusst ganz auf das Wesentliche eines Thrillers reduziert. Dadurch gerät der wissenschaftliche Anteil natürlich in den Hintergrund und wird nur angedeutet. Kernschatten geht damit genau den gegenteiligen Weg anderer Wissenschaftsthriller, wie z.B. der Schwarm oder die Sachen von Dan Brown, die sehr ausführlich und auf Länge angelegt sind. Die sehr komprimierte Form von Kernschatten finde ich im Vergleich dazu sehr erfrischend.
      Spoiler: Zum Beispiel Mikas Erlebnisse in den dunklen Fernwärmeröhren fand ich atemberaubend.
      Vielen lieben Dank für Deine Rückmeldung, die ich sehr schätze und interessant finde.
      LG, Horatio! 🙂

      • Aleshanee

        Ich wollte diese beiden Bücher jetzt nicht unbedingt vergleichen – aber wenn man schon einmal sehr begeistert war von einem Autor, erhofft man sich ja beim nächsten Buch eine ebenso große Begeisterung.
        Für mich war der Stil hier halt wirklich extrem holprig, wie eine Rohfassung, um ehrlich zu sein, und die Charaktere null greifbar und der Kommissar so extrem doof, das es einfach unglaubwürdig war.

        Dass ein Thriller für die Spannung lebt ist klar, aber die war für mich hier einfach nicht vorhanden. Auch nicht in der Röhre mit Mika 😀 Ich hab auch nicht verstanden was es mit den „Piesel-Kanistern“ auf sich hatte…
        Und auch wenn ein Thriller vieles knapp hält, wenn ich es auf diese „Substanz“ ausgelegt habe, zumindest wie es durch den Klappentext bei mir ankam, dann erwarte ich darüber halt schon irgendwas. Gerade weil der Autor in Athos so einen ausgefeilten Stil hingelegt hat und ich das Gefühl hatte, er hat eine Ahnung von dem, was er schreibt – dieses Gefühl fehlte mir hier leider ganz.

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert