Thriller

Tom Lin, „Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“

Es sind wilde Zuschreibungen, die man über diesen kleinen, gerade einmal 300 Seiten kurzen, Roman lesen kann: „Thriller“, „Magischer Realismus“, „Krimi“, „Illusion“, „Western“, „geschaffen für die Coen Brüder“, „Gothic“. Es bereitet ganz offensichtlich erhebliche Probleme, „Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ in eine der gewohnten Schubladen zu quetschen. Einig sind sich die Rezensent*innen lediglich in der Einschätzung, dass es sich bei dem Buch um einen wilden Genre-Mix handelt. Es muss sich hier also um einen außergewöhnlichen Roman handeln. Ganz nach meinem Geschmack. Meine Neugierde war sofort geweckt. Aufmerksam war ich auf den Roman, der auch auf der DLF-Krimibestenliste Januar gelistet war, letztendlich durch eine Diskussion in der Radiosendung SWR2 Forum geworden, die die Faszination von Krimis zum Gegenstand hatte. Noch so eine Schublade, in der das Buch eigentlich nichts zu suchen hat.

„Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ ist eine Rachefantasie. Utah und Nevada im Jahr 1869. Ein weites, leeres Land. Die Wüste wird nach und nach durch eine Eisenbahnlinie erschlossen. Von Sacramento/Kalifornien, über Reno/Nevada bis ins Niemandsland am Großen Salzsee in Utah, ist die „Central Pacific Railroad“ bisher vorgedrungen. Und mit ihr menschliche Siedlungen als Vorposten dessen, was man wohl umgangssprachlich vorschnell als „Zivilisation“ bezeichnet.

Im Zentrum der Geschichte der Auftragskiller Ming Tsu. Ein „Hitman“ auf persönlichem Rachefeldzug. Sechs Männer stehen auf seiner Liste. Sechs weiße Männer, die ihm seine Frau entrissen haben. Ming Tsu hat chinesische Eltern. Unvorstellbar für den mächtigen weißen Vater seiner Angebeteten. Nur durch ihr Flehen ließ man ihm das Leben und übergab ihn als Zwangsarbeiter der Eisenbahngesellschaft. Zusammen mit unzähligen unterprivilegierten Arbeitern chinesischer Herkunft, wurde er in ein qualvolles unfreies Leben gezwungen. Jetzt reist er entlang der Central Pacific Railroad Richtung Sacramento, um die Verantwortlichen zu töten und seine Frau wiederzufinden.

„Ein Mensch ist unsterblich bis zu dem Augenblick seines Todes. Und dann ist er allem ausgeliefert. Bis dahin aber lebt er ewig, und nichts auf der Welt kann ihn bezwingen.“

Ming Tsu ist ein eiskalter Killer, der ohne zu zögern jeden tötet, der sich ihm in den Weg stellt. Unzählige tote Männer säumen seinen Weg. Begleitet wird er von einem alten blinden Chinesen, dem „Propheten“, der das Schicksal und den Tod seines Gegenübers erkennen kann. Sie schließen sich einer kleinen Zirkustruppe an, die mit einem magischen Programm unterwegs ist. Eine Gruppe von Außenseitern, so wie er selbst, die über wundersame Fähigkeiten verfügen.

Die Geschichte kommt auf den ersten Blick im Gewand eines Pulp-Romans daher. Ein einfacher, klassischer Western-Plot mit holzschnittartigen Charakteren, die keinerlei Entwicklung aufweisen. Gradlinig erzählt, mit einer Vielzahl von Toten, läuft sie direkt auf ihr vorhersehbares Ende hinaus. Das ist Kinoformat, eindeutig B Movie, sicherlich auch Tarantino.

Zum Glück belässt es Tom Lin aber nicht bei dieser schlichten, oberflächlichen Story. Bei näherer Betrachtung erweist sich sein Pulp-Roman als überraschend vielschichtig. Den Lesenden eröffnen sich ungewohnte, neue Sichtweisen auf die Rolle der chinesischen Wanderarbeiter bei der Erschließung des amerikanischen Westens und vor allem auch auf den ihnen gegenüber bestehenden Rassismus. Daneben kratzt der Autor mit seinem „Lone Rider“ chinesischer Abstammung und dem nicht christlichen chinesischen Propheten, direkt an den uramerikanischen Mythen des Westens. Das ist herrlich frech und ausgesprochen gelungen. 

„Einen Chinesen, sagte Silas immer, würde niemand beachten, und keiner würde sich gut genug an ihn erinnern, um dem Sheriff eine Beschreibung zu liefern. Für die Gesetzeshüter und die Bahnleute sehen wir alle gleich aus. Verdammt, in der Sierra haben sie nicht mal unsere Namen aufgeschrieben, nur jeden Tag unsere Köpfe gezählt.“

In Verbindung mit den immer wieder aufblitzenden magischen Momenten wird damit aus dem einfachen Rache-Plot eine schillernde, aufgeladene und skurrile Geschichte, die sich auch nicht immer so ganz ernst nimmt.

Der Roman erweist sich tatsächlich als ein äußerst ungewöhnlicher aber durchaus funktionierender Genre-Mix. In dieser Form sicherlich einzigartig und auch wenn mich der Ton des Erzählers streckenweise sehr an Stephen Kings Roland von Gilead in „The Gunslinger“ erinnert, möchte ich dem Klappentext zustimmen, dass sich hier eine neue Stimme vernehmen lässt.

Obwohl also eigentlich alles gut funktioniert, will der Funke aber nie so richtig überspringen. Trotz aller Härte und Action fehlt es der Geschichte einfach an Spannung. „Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ sind im Grunde ja immer noch eine Rache-Western der, einfach spannend erzählt werden muss. Hier verzettelt sich der Roman jedoch durch seine Genre-Ausflüge ganz erheblich. Letztere sind literarisch zwar gelungen und sicherlich sehr interessant, können den Roman aber alleine nicht tragen. Als Spannungsroman oder gar als Thriller, ist die verbleibende Pulp-Geschichte allerdings zu holzschnittartig und vor allem zu vorhersehbar.

„Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ von Tom Lin ist ein unkonventioneller, vielschichtiger Pulp-Rache-Western. Ein innovativer Genre-Mix, der sich aber zwischen allen Stühlen stehend wiederfindet.

  • Tom Lin, Die tausend Verbrechen den Ming Tsu
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Volker Oldenburg
  • OA: „The Thousand Crimes of Ming Tsu“, 2021
  • Paperback, 302 Seiten
  • Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
  • ISBN 978-3-518-47284-2
  • Preis: 16 €
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