Kriminalroman

Henrike Jütting, „Mord im Kreuzviertel“

Es war mal wieder an der Zeit, einen Krimi zu lesen. Ein gelungener Krimi, oder genauer gesagt „Kriminalroman“, bedeutet für mich gute und anregende Unterhaltung. Dazu muss er handwerklich gut gemacht sein und sollte im besten Fall auch neue bzw. vertiefende Perspektiven bieten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Nach wie vor boomt der Krimi und Jahr für Jahr drängen unzählige neue Kriminalromane auf den Buchmarkt. Da ist es für uns Leser*innen alles andere als leicht, den Überblick zu behalten. Folgte der Kriminalroman in seinen Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts als sogenannte „Detektivgeschichte“ noch einem klar erkennbaren festen Schema, hat er sich heute zu einem außerordentlich breit aufgefächerten Genre entwickelt. Detektivgeschichte, Whodunit, Locked Room, Polizeiroman, Hardboiled, Pulp, Noir, Triller, Spionage, History, True Crime, Cozy, Regional, die Erscheinungsformen des Kriminalromans sind ausgesprochen vielfältig und im Grunde unüberschaubar. Zwar liebe ich persönlich diese wunderbare Vielfalt, allerdings kann sie bei der Kaufentscheidung schnell zu ärgerlichen Fehlgriffen führen. Eine nähere Einordnung und Differenzierung ist daher gerade beim Kriminalroman kein theoretischer Selbstzweck, sondern aus meiner Sicht dringend geboten, um späteren Enttäuschungen vorzubeugen. Natürlich ein geradezu ideales Betätigungsfeld für Literaturblogger*innen.

Henrike Jüttings Roman „Mord im Kreuzviertel“ ist ein klassischer „Whodunit“, der als sog. „Polizeiroman“ daherkommt. Das heißt, die Frage nach dem Täter bzw. der Täterin steht ganz im Zentrum des Geschehens, wobei die Leser*innen die nachvollziehbaren Ermittlungen der Polizei begleiten und selbst Vermutungen darüber anstellen können, wer die Tat begangen hat.

Die Autorin ist Münsteranerin und auch dieser mittlerweile fünfte Fall ihrer Krimireihe um die Kommissarinnen Katharina Klein und Eva Mertens ist wieder in der westfälischen Universitätsstadt Münster angesiedelt. Auf dem Buchcover wird das deutlich herausgestellt. Auch der Titel „Mord im Kreuzviertel“ könnte regionaler kaum ausfallen, handelt es sich bei dem Quartier doch um eine der begehrtesten Wohnlagen Münsters. Ein mittlerweile komplettsaniertes teures Altbauviertel, das auf eine bewegte Zeit in den 70ern als studentisches Wohnquartier zurückblickt. Auch der Klappentext legt großen Wert darauf, dass die Geschichte in Münster spielt. Autorin und Verlag lassen keinerlei Zweifel aufkommen, dass „Mord im Kreuzviertel“ auch ein „Regionalkrimi“ ist.

Hintergrund und Plot des Romans erweisen sich als vielschichtig und ausgesprochen gelungen. Anlässlich eines siebzigsten Geburtstags kommen fünf ehemalige Mitbewohner*innen aus Studienzeiten in einem schon etwas in die Jahre gekommenen Altbau im Münsteraner Kreuzviertel zusammen. Es ist genau das Haus, in dem sie Anfang der 70er Jahre als studentische Wohngemeinschaft lebten, bis diese wegen eines Brandes aufgelöst werden musste. Nach einem feuchtfröhlichen Auftakt des Treffens, machen sie im Keller des alten Hauses eine erschütternde Entdeckung. Kommissarin Katharina Klein, die Nichte einer der Mitbewohnerinnen, nimmt die Ermittlungen auf. Schnell führt die Spur in das Münster der frühen 70er Jahre, in die Zeit der Studentenbewegung. Aber auch verstörende Vorgänge in einem Kinderheim, die bis in die 60er Jahre zurückliegen, könnten mit dem Fall in Verbindung stehen. Was als nettes nostalgisches Ehemaligentreffen begann, entwickelt sich zu einer gefährlichen Reise in die bewegte jüngere deutsche Vergangenheit.

Ich könnte hier jetzt sofort eine Hand voll (zumeist skandinavischer) Autoren anführen, die diesen starken und vielschichtigen Plot, ohne zu zögern in einen schockierenden Thriller verwandelt hätten. Henrike Jütting ist dieser Versuchung nicht erlegen, denn trotz aller potentieller Dunkelheit und Dramatik des Hintergrunds, hält die Geschichte mit ihrer überschaubaren Zahl an Verdächtigen, der an einen einzelnen Ort gebundenen Handlung und den in sich schlüssigen, nachvollziehbaren Ermittlungen, sämtliche Zutaten für einen geradezu klassischen „Whodunit“ bereit. Blutiges und schockierendes Thriller-Blendwerk ist hier nicht erforderlich.

Die Geschichte wird über drei Zeitebenen hinweg souverän erzählt. Stück für Stück wird das Puzzle der Vergangenheit der Wohngemeinschaft zusammengesetzt, wobei den Lesenden auch bewusst manch falsche Spur präsentiert wird. Besonders eindrücklich geraten sind die Ereignisse aus den 70er Jahren. Die Zeit der Studentenbewegung, des Protests und der alternativen Lebensstile. Ein interessanter, unverbrauchter Hintergrund, der bestens geeignet ist für einen intelligenten und relevanten Kriminalroman. Auch die Dialoge und Konflikte der Wohngemeinschaft dieser Zeit sind sehr amüsant geraten. Das typische WG-Kleinklein zwischen Abwasch und Demo ist witzig und manchmal zum Haare raufen. Herrlich! Bei allem unterschwelligem Humor driftet die Geschichte dabei jedoch nie ins Skurrile oder Komödiantische ab, sondern nimmt sich immer ernst.

Leider bleibt der Roman bei dem großen Thema der Studentenbewegung nur an der Oberfläche. Die studentischen Lebensverhältnisse der 60er-70er Jahre, die politischen und sozialen Verwerfungen, die Auseinandersetzungen mit Kriegsschuld, Staat und Familien, alles im Brennpunkt der traditionsreichen, konservativen Universitätsstadt Münster, wären eine ideale Gelegenheit gewesen, der Geschichte eine gewichtige gesellschaftliche Perspektive hinzuzufügen und dem Kriminalroman auf diesem Weg eine besondere Relevanz zu verleihen.

Stattdessen lässt es die Autorin lieber in einer Nebenhandlung zum Privatleben der Kommissarin kräftig menscheln. Das in Krimis mittlerweile schon übliche private Geplänkel. Eine lästige Nachbarin bringt Suppe, der patente Ehemann ist nett und schleift den Wohnzimmerboden ab, ein anderer Nachbar, ein Nachtclubbesitzer mit drei Pitbulls, ist ebenfalls nett und hilft beim Heimwerkeln, man stößt zusammen mit Prosecco an. Das alles bleibt ohne größere Anbindung an den eigentlich ernsthaften starken Plot. Diese Konzession an das beschauliche Subgenre „Regionalkrimi“ bleibt ein Fremdkörper.

Trotzdem ist „Mord im Kreuzviertel“ natürlich ein gelungener und spannender Regionalkrimi aus der Universitätsstadt Münster, den ich gerne gelesen habe. Ein souverän erzählter unaufgeregter „Whodunit“, der spannende Ermittlungen bis zur schlüssigen Auflösung garantiert, jedoch das große Potential seines vielschichtigen gesellschaftlichen Hintergrundes nicht ganz hebt.

  • Henrike Jütting, Mord im Kreuzviertel
  • KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim, 2023
  • Taschenbuch, 341 Seiten
  • ISBN 978-3-95441-650-9
  • Preis: 15 €

Im Februar 2023 stand mir Henrike Jütting unter der Rubrik „10 Fragen an…“ für ein Interview zur Verfügung. Dort sind zahlreiche interessante Einblicke zu ihrer Arbeit als Autorin zu entdecken.

Facebook
Twitter
WhatsApp
Email
Print

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert