Belletristik,  Kriminalroman

Riku Onda, „Die Aosawa-Morde“

Der im schweizerischen Atrium Verlag erschienene Kriminalroman „Die Aosawa-Morde“ der japanischen Autorin Riku Onda (*1964 in Sendai/Japan), wurde gerade mit dem deutschen Krimipreis 2022 in der Kategorie „International“ ausgezeichnet. Nachdem mich bereits der Sieger der Kategorie „National“, Johannes Groschupfs düsterer Thriller „Die Stunde der Hyänen“, überzeugen konnte, war ich besonders gespannt auf „Die Aosawa-Morde“, dem Klappentext zufolge „Der ungewöhnlichste Spannungsroman, den Sie je gelesen haben“. Derart selbstbewusste Anpreisungen legen die Messlatte leider unnötig hoch, was den beworbenen Büchern nicht immer einen Gefallen tut. Auch in diesem Fall sind die großen Worte eher unglücklich gewählt. Das Buch ist nämlich ganz sicher kein Spannungsroman und auch seiner ganzen Struktur nach überhaupt nicht auf Spannung angelegt. Der ebenfalls verwendete Begriff „ungewöhnlich“ trifft den Nagel dagegen auf den Kopf.

Riku Onda hat mit den Aosawa-Morden einen im wahrsten Sinne des Wortes „ungewöhnlichen“ Kriminalroman geschaffen, der sich weitgehend von den starren Genreregeln gelöst hat. Der Roman ist ein gelungenes Beispiel für die überaus große Bandbreite, die Kriminalliteratur zu bieten hat. Riku Ondas Geschichte entzieht sich konsequent allen Versuchen, sie in eines der vielen Subgenres der einschlägigen Kriminalliteratur einzuordnen. Sie weist zwar Elemente des „Whodunit“ und auch des „Noir“ auf, passt mit ihrer hochkomplexen narrativen Struktur und Vieldeutigkeit jedoch in keine der üblichen Schubladen.

 

Ein großes Verbrechen erschüttert die Stadt

Das fürchterliche Ende einer großen Familienfeier bildet das Epizentrum des Romans: 1973 in der nicht näher bezeichneten japanischen Stadt K, ist die großbürgerliche Ärztefamilie Aosawa mit Freunden und Nachbarn zusammengekommen, um die Geburtstage dreier Familienmitglieder zu feiern. Mit Zyankali vergifteter Sake wird angeliefert. Siebzehn Menschen, darunter die meisten Familienmitglieder und zahlreiche Kinder, kommen qualvoll zu Tode. Die Tat wurde nie richtig aufgeklärt. Der tatverdächtige Lieferant, beging Selbstmord. Es bestehen Zweifel, ob er tatsächlich der Täter war. 

 

Die Erzählstruktur ist so rätselhaft und verschachtelt wie die Ereignisse

Das Nachbarkind Maikko Saiga hat als kleines Mädchen das Verbrechen knapp überlebt und veröffentlicht später in den 1980er Jahren einen Bestseller mit dem Titel „Das vergessene Fest“ zu den Ereignissen, in dem zahlreiche Zeitzeugen zu Wort kommen. Wiederum 20 Jahre später, so um das Jahr 2003 herum, werden die Personen, die mit dem Tag des Verbrechens in Verbindung stehen erneut interviewt. Die Identität des Fragenden bleibt dabei unbekannt. 

Riku Ondas Roman besteht aus den Transkripten dieser neuerlichen Interviews, den Auszügen aus Maikko Saigas Bestseller (sozusagen als Buch im Buch), sowie aus Zeitungsausschnitten und weiteren Notizen. Jedes ihrer 14 Romankapitel wird dabei aus der Perspektive einer der interviewten Personen erzählt. Aber auch deren Identität wird nie ausdrücklich genannt, sondern lässt sich immer nur indirekt aus dem Kontext erschließen. „Die Aosawa-Morde“ werden so zu einem, sich über drei Zeitebenen erstreckenden, chronologisch erzählten Puzzle.

Trotz der labyrinthischen, kunstvollen Verschachtelung des Textes, kann man den Geschehnissen immer noch recht gut folgen, und da sich der Roman ganz der Suche nach dem wahren Täter widmet, kommt bei aller Kunstfertigkeit mit der Zeit auch eine gewisse Spannung auf. Die sich immer wieder aufs Neue ergebenen Rätsel und Wendungen sind gut inszeniert und nehmen die Leser*innen durchaus mit.

Schon früh ist erkennbar, dass Hisako Aosawa, die überlebende Tochter der Familie, ganz im Zentrum des Geschehens steht. Das entrückt wirkende, hochintelligente Mädchen ist in früher Jugend erblindet und war zum Zeitpunkt des Verbrechens zwölf Jahre alt. Sie dominierte das Universum der Familie Aosawa und ist von einer düsteren, geheimnisvollen Aura umgeben, der sich keiner der Beteiligten entziehen kann. Hisako Aosawa ist ein Geheimnis. Ist sie die Täterin? Nicht wenige Teile des Puzzles deuten in diese Richtung. Die Teile lassen sich jedoch auch zu ganz anderen Bildern zusammensetzen.

„Die Aosawa-Morde“ sind alles andere als leicht zu lesen, was in erster Linie daran liegt, dass man immer nur schlussfolgern kann, welche Person gerade spricht. Aber auch die Inhalte der Aussagen sind zumeist vage, verschlüsselt und rätselhaft. Zudem erweisen sich die Erinnerungen der Interviewten als unvollständig und sehr subjektiv. Es sind unzuverlässige Erzähler, die zu Wort kommen.

Der Roman erweist sich aber nicht nur hinsichtlich seiner erzählerischen Struktur als äußerst vielschichtig. Viele Szenen sind aufgeladen mit einer großen, bildgewaltigen, oftmals chiffrierten, geheimnisvoll wirkenden Symbolik. Farben, Wetter und Natur spielen hier eine große Rolle. Die Suche nach den Tätern steht nicht im Mittelpunkt des intelligenten und hintergründigen Romans.  Zusammen mit den zahlreichen, oft erst auf den zweiten Blick erkennbaren, gesellschaftlichen, historischen und religiösen Motiven eröffnet der Roman abseits der Tätersuche vielfältige Möglichkeiten ganz unterschiedlicher Interpretationen. Das ist herausragend gemacht und sehr beeindruckend.

 

Bleibt festzuhalten

Innovative erzählerische Struktur, interpretatorische Offenheit und aufgeladene Symbolik. Riku Ondas Roman „Die Aosawa-Morde“ ist ein außergewöhnlicher, labyrinthischer Kriminalroman von großer Tiefe. Eine faszinierende, anspruchsvolle Lektüre, die mit den Regeln des Genres bricht. Sehr erfrischend zu lesen, aber nichts für Freund*innen klassischer Krimis.

 

„Wenn etwas Unfassbares passiert, brauchen und fordern die Menschen Antworten. Eine große Verschwörung, ein finsteres Komplott. Die Schwachen und Ohnmächtigen fühlen sich gezwungen, Antworten zu finden oder Erklärungen von denjenigen zu verlangen, die eine höhere Position innehaben, denn sie haben das Bedürfnis, die Schuld irgendwo zu suchen.“

Spoiler

Am Ende bleibt das von der Autorin aus den vielen verschiedenen Puzzleteilchen und Perspektiven zusammengefügte Gesamtbild unvollständig. Riku Onda hält die Dinge auch über den Schluss hinaus in der Schwebe. Zum Glück möchte ich sagen. Der “Whodunit“ ohne eindeutige Auflösung ist zwar ein großer Bruch mit vielen Traditionen der Kriminalliteratur, hier jedoch fügt sich der offene Schluss wunderbar in die vage, vielschichtige und rätselhafte Atmosphäre des Romans ein. Ein standesgemäßer Abgang.

Buchgestaltung

Ich halte die 1. Auflage der Hardcover-Ausgabe des Romans in den Händen. Der Verlag hat auf einen Umschlag verzichtet, was meinen Lesegewohnheiten allerdings sowieso sehr entgegenkommt. Auch ein Lesebändchen fehlt. Aber spätestens beim Anblick des wunderbaren Buchcovers, wird diesen Dingen niemand mehr nachtrauern. Das für einen Kriminalroman völlig untypische Motiv wirkt rätselhaft und sticht aus der Masse heraus. Damit passt es einfach ideal zu dem ebenfalls sehr außergewöhnlichen Roman. Aber nicht nur das. Bei der Lektüre fällt auf, dass das Cover auch zahlreiche Bezüge zum Inhalt des Buchs aufweist. Eine gelungene Auswahl und insgesamt ein überzeugend gestaltetes Buch.

Deutscher Krimipreis – Die besten Kriminalromane des Jahres

Der Deutsche Krimipreis ist ein Kritiker*innenpreis, der bereits 1985 durch das „Bochumer Krimiarchiv“ ins Leben gerufen wurde. Mit der speziellen Namensgebung erklärt sich auch die immer wieder auftauchende, unvergleichliche Schlagzeile: „BKA verleiht DKP“, die den Deutschen Krimipreis seit seinen Anfängen begleitet.

Jedes Jahr im Januar entscheidet eine mindestens 24-köpfige Jury aus Kritik, Literaturwissenschaft und Buchhandel über die besten deutschsprachigen und internationalen Kriminalromane des abgelaufenen Jahres. Alle der rund 3.500 deutschen Erst- und Originalausgaben eines Jahrgangs können dabei Stimmen erhalten und für eine Nominierung in Betracht kommen. Am Ende werden die Plätze 1, 2 und 3 in den Kategorien „national“ und „international“ prämiert.

Weitere Infos zum DKP sind unter www.deutscher-krimipreis.de zu finden.

Werbung, weil kostenfreies Rezensionsexemplar.

      • Riku Onda, Die Aosawa-Morde
      • Aus dem Japanischen von Nora Bartels
      • OA: „EUGENIA“, 2005
      • Hardcover, 367 Seiten
      • Atrium Verlag AG, Zürich, 2022
      • ISBN 978-3-85535-127-5
      • Preis: 22 €
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